«Wenn mir jemand vor zwei Jahren erzählt hätte, dass es seinem Vater einmal gelingen würde, meinen Sohn gegen mich aufzubringen – ich hätte ihn für verrückt erklärt», schreibt mir B. in einer Mail.
Zuletzt gesehen hat sie ihren Sohn (11) im vergangenen Herbst, durch einen unglücklichen Zufall, schreibt sie weiter. Danach sei er verstört gewesen, habe ihr der Kinderanwalt ausgerichtet.
Wie kann es so weit kommen?
Obwohl der Junge nur rund 30 Kilometer von ihr entfernt bei seinem Vater und dessen neuer Frau lebt, kriegt sie ihn trotz gerichtlich angeordneten Erinnerungskontakten nicht mehr zu sehen. Er verweigert den Kontakt zu ihr, kriegt Schreikrämpfe, spuckt ihr ins Gesicht.
Wie kann es in einer einst liebevollen Beziehung zwischen Mutter und Sohn so weit kommen?
Wenn ein Elternteil dem anderen das Kind vorenthält
Sieht ein Elternteil nicht ein, dass das Kind eine Beziehung zu beiden Elternteilen braucht, spricht man von fehlender Bindungstoleranz. Der ehemalige Familienrichter Bruno Roelli erklärt, was Bindungstoleranz bedeutet:
«Er ist zwar nicht mehr mein Ehemann, aber er ist sehr wohl der Vater meines Kindes und ich bin als Elternteil bereit, diese Bindung zuzulassen, damit das Kind zu beiden Elternteilen eine Bindung haben kann.»
Entfremdung passiere dann, wenn ein Elternteil, welcher diese Bindungstoleranz nicht hat, sogar aktiv dagegen kämpft, dass ein Kind Kontakt zum anderen Elternteil hat.
Die Eltern sind zuständig, dass Kinder Kontakt zu Mutter und Vater haben
Entscheidend sei der Elternteil, zu dem das Kind mehr Kontakt habe, erklärt Psychotherapeutin, Psychologin und Gutachterin Liselotte Staub. Der Elternteil, welcher die Hauptbetreuung habe, sei der Gatekeeper: «Wenn Eltern sagen: «Jetzt bin ich wieder verantwortlich, dass das Kind eine Beziehung zum Vater hat», dann sage ich: «Nein, für die Beziehung sind sie nicht verantwortlich, sie sind verantwortlich dafür, dass das Kind Kontakt hat zum anderen Elternteil», sagt Staub. «Wenn die Mutter sagt, sie überlasse es dem Kind – dann muss man ganz klar sagen: rechtlich gesehen ist das ihr Business.»
Wenn Kinder den Druck nicht mehr aushalten, spalten sie sich ab
Kinder wollen in der Regel beide Elternteile, sagt Roelli. Trotz schlechter Erfahrungen und Erlebnisse sollten Eltern nicht vor dem Kind schlecht übereinander sprechen, es habe nur einen Vater und eine Mutter: «Lassen sie das Kind um Himmels Willen beide gern haben.»
Bei einer Trennung geht die Einheit von Vater und Mutter verloren. Das kann Kinder in einen Loyalitätskonflikt stürzen – zum wem halte ich, zu Mami oder zu Papi? «Das Kind wird, wenn es den Loyalitätskonflikt nicht aushält, eine Koalition mit dem Elternteil eingehen, von dem es sich abhängiger fühlt», erklärt Staub.
Bei Papi oder Mami bleiben?
Für welche Seite es sich entscheidet, kann verschiedene Gründe haben: «Wenn Papi zum Beispiel wegzieht und das Kind beim Mami bleiben will, weil es hier den Spielplatz und die Kollegen in der Nachbarschaft hat», sagt Staub. «Oder es kann trotz Bindung zu beiden Elternteilen eine Koalition mit dem Elternteil eingehen, zu dem es sich näher fühlt – das kann etwa das gleichgeschlechtliche Elternteil sein.»
Kinder könnten sich auch mit dem Elternteil verbünden, dem sie meinen helfen zu müssen: «Gerade soziale Mädchen verbünden sich mit dem Elternteil, dass sie als bedürftiger oder schwächer wahrnehmen, wenn sie das Gefühl haben, Papi oder Mami helfen zu müssen.» Oder aber Kinder verbünden sich mit dem Elternteil, welcher bewusst oder unbewusst mehr Loyalität fordere oder auf eine Entfremdung hinarbeite.
Wenn sich Kinder auf eine Seite schlagen
«Wenn das Kind den Druck nicht mehr aushält, beiden die Liebe zu zeigen, macht es einen Schnitt und schlägt sich auf eine Seite», erklärt Roelli: «Es hält es nicht mehr aus, die Loyalität zu leben und spaltet einen Elternteil ab. Diesen Teil gibt es dann nicht mehr. Dann hat es eine Art Ruhe und kann einigermassen funktionieren.»
Solche Kinder könnten ein gutes Sozialverhalten haben, gute Leistungen bringen, auch im Sport. «Aber sie haben einen Teil ihres Lebens abgespalten, um Ruhe zu bekommen, um dem Zwiespalt auszuweichen», sagt Roelli.
Früh reagieren
Der pensionierte Richter und Berater und die Psychiaterin und Gutachterin kennen aus eigener Erfahrung nur wenige Fälle, in welchen sich entfremdete Kinder und Elternteile wieder angenähert haben. Es brauche viel, bis sich ein Kind im Erwachsenenalter traue, sich beim Vater zu melden, dem es Briefe mit Todeswünschen geschickt habe. Was, wenn der Vater sagt, es habe kein Kind mehr?
«Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber die Vorstellung von Müttern oder Vätern, die bewusst oder unbewusst ihre Kinder entfremden und meinen, die Kindern könnten später Kontakt aufnehmen – das ist Wunschdenken», sagt Staub.
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Was tun? Früh reagieren, empfiehlt Staub. Bei Entfremdungen staue sich vieles an, am Ende reiche der berühmte Tropfen und es sei aus. Darum: «Früh reagieren, wenn man merkt, dass Kontakte vorenthalten werden.» Das bedeutet, das Gespräch mit dem anderen Elternteil zu suchen, die Paarebene von der Elternebene trennen.
Wenn das nichts bringt, solle man sich Hilfe holen: «Es gibt Beratungen und die Behörden können Eltern zu einer Pflichtmediation verpflichten, wo ihnen klar gemacht wird, was die Folgen für das Kind sein können.»
Weiterleben ohne das einzige Kind
Wie geht B., die mir geschrieben hat, mit diesem Verlust um? «Ich habe die Angelegenheit an eine höhere Instanz übergeben. Meine Aufgabe wird in den nächsten Jahren darin bestehen, Wege zu finden, um trotz dieses Verlusts weiter- und überleben zu können», schreibt sie. «Ob mein Sohn eines Tages den Weg zu uns zurückfindet – nur Gott allein weiss es... Ich hoffe einfach, dass es seine Grosseltern noch erleben werden.»
Nachtrag: Betroffene Väter und Kinder melden sich
Radio SRF 3 hat am 18. Juli als Nachtrag zum Input-Podcast zur Entfremdung den Fokus auf betroffenen Väter und Kinder gerichtet. Wegen der grossen Nachfrage stellen wir hier einen Mitschnitt zur Sendung zur Verfügung.