Die Schweiz ist nicht Manchester und die Schweiz ist nicht das Ruhrgebiet. Aber auch die Schweiz sei wegen ihrer Industriegeschichte zu dem geworden was sie heute ist. Die Industrie habe das Land und das Selbstverstädnis geprägt, das gehe aber oft vergessen, meint Regula Wyss, Vizepräsidentin des Verbandes Industriekultur und Technikgeschichte Schweiz (Vintes).
Insbesondere die touristische Vermarktung prägte das Bild einer idyllischen, ländlichen Schweiz, mit Kühen und Bergen. Dabei würden sich auch hierzulande viele Freiwillige engagieren, damit das industrielle Kulturerbe nicht in Vergessenheit gerät und authentisch und sinnlich erfahrbar bleibt. Wir stellen drei solche Orte vor:
1. Asphalt aus der Schweiz für die Welt
Was haben die Brunnen des Schloss Versailles mit den Böden des Bahnhofs in New York gemeinsam? Sie wurden mit Asphalt aus dem Val de Travers gebaut. Aphalt, ein Exportgut, welches man heute wohl kaum mehr mit der Schweiz in Verbindung bringt. Doch ab 1771 wurde im Kanton Neuenburg Asphalt abgebaut. Weltweit gibt es nur wenige Orte, wo natürlicher Asphalt gewonnen werden kann. Grosse Vorkommnisse gibt es unter anderem auf Trinidad und in Venezuela.
Asphalt aus dem Val de Travers findet man auf der ganzen Welt.
Die Asphaltgewinnung war ein Prunkstück der Neuenburger Industrie. Vor dem ersten Weltkrieg war es die grösste Asphaltmine der Welt. 53'000 Tonnen wurden 1913 abgebaut. Und da die Betreiberin der Mine ab 1873 ein englisches Unternehmen war, findet man das elastische, jurassische Gestein im gesamten Common Wealth, zum Beispiel auch in Strassenbelägen auf Neuseeland.
Die Asphaltmine im Val de Travers
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Bild 1 von 8. Mit Taschenlampen bewaffnet kann man die ehemaligen Asphalt-Minen erforschen. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 2 von 8. Werkzeuge und Hilfsmittel der einstigen Minenmänner. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 3 von 8. Unscheinbar, aber gut vernetzt. Mit der Bahn gelangte der Schweizer Asphalt in die weite Welt. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 4 von 8. Verschiedene Experimente helfen besser zu verstehen, was Asphalt ist, wie er entsteht und weshalb es ausgerechnet im Val de Travers grosse Mengen davon gibt. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 5 von 8. Beim ersten Blick denkt hier niemand ans Essen. Doch in den schwarzen Klumpen versteckt sich die Spezialität des «Café des mines»: In Asphalt gekochter Schinken. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 6 von 8. Früher gab es den Schinken nur am 4. Dezember. Dieser Tag ist der Heiligen Barbara, der Schutzherrin der Bergleute gewidmet. Die Bergmänner genossen das besondere Festmahl. Bildquelle: Mines d’asphalte.
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Bild 7 von 8. Auch in New Jersey (USA) kam Asphalt aus der Schweiz zum Einsatz. Bildquelle: Mines d'asphalte.
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Bild 8 von 8. Asphalt aus dem Kanton Neuenburg im fernen Neuseeland (Dunedin). Bildquelle: Mines d'asphalte.
1986 wurde der Betrieb im Val de Travers eingestellt. Zu gross war die Konkurrenz des reineren Naturasphalts aus Trinidad und technisch hergestelltem Asphalt. Die Minen sind seit der Schliessung für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit Taschenlampen ausgerüstet könne man die Stollen erkunden und in eine fremde Welt eintauchen, erklärt Laure von Wyss, Direktorin der Asphaltminen.
2022 wurde eine neue Austellung eröffnet, in welcher man mit spielerischen und interaktiven Experimenten erfährt, wie Asphalt entsteht und weshalb man das Erdpech, das Kohlenwasserstoffgemisch, ausgerechnet im Val de Travers findet. Die vielleicht grösste Überraschung wird einem aber im dazugehörigen Cafe serviert. Nämlich in Asphalt gekochter Schinken. Ja, richtig gelesen.
2. Textilindustrie zum Anfassen
Wer Lust auf eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert hat, dem sei eine Reise ins Zücher Oberland empfohlen. Ab 1827 und der Eröffnung der Spinnerei entstand in Neuthal ein Industrieensemble, das in seiner Authentizität mit Fabrikgebäuden, Wasserkraft- und Parkanlagen in der Schweiz heute einmalig ist. 1964 wurde der Betrieb der Weberei eingestellt.
Es ist eine authentische Zeitreise ins 19. Jahrhundert und die Textilindustrie, welche einen Grundstein für den Schweizer Wohlstand gelegt hat.
Doch: Die Maschinen funktionieren noch heute. Von der rohen Baumwolle bis zum fertigen Faden könne man alle Produktionsschritte mitverfolgen. Das gebe es sonst nirgendwo im deutschsprachigen Raum. Der ganze Textilindustriekomplex mit Spinnerei, Weberei, Stickerei und den Wasserkraftanlagen sei noch vollständig erlebbar, sagt Museumsleiterin Nora Baur. Dies auch dank über hundert engagierten Freiwilligen, welche oft selbst in der Textilindustrie gearbeitet hatten und heute das Wissen weitervermitteln würden.
Museum Neuthal Textil und Industriekultur
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Bild 1 von 6. Die Dampfbahn Bauma-Hinwil fährt über die historische Eisenbahnbrücke, unter welchem das Textilindustriegelände und das Museum Neuthal liegen. Bildquelle: Keystone / Rene Ruis.
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Bild 2 von 6. Von 1828 bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Spinnerei in Betrieb. In den 40er bis 60er Jahren befand sich darin eine Weberei. Bildquelle: Museum Neuthal.
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Bild 3 von 6. Die Spinnerei im Museum Neuthal. Rund 100 Freiwillige machen Führungen und nehmen die alten Maschienen wieder in Betrieb. Bildquelle: Museum Neuthal.
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Bild 4 von 6. Eine Stickerin an der Arbeit an einer Handstickmaschine. Diese waren früher weniger in Fabriken, aber in Privathaushalten zu finden. Bildquelle: Museum Neuthal.
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Bild 5 von 6. Einblick in die aktuelle Sonderausstellung «Das Faserkabinett». Im Museum setze man sich auch mit Fragen der Gegenwart auseinander. Bildquelle: Museum Neuthal.
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Bild 6 von 6. Die Girardturbine im Turbinenturm bei Revisionsarbeiten. Die Wasserkraft lieferte den Pulsschlag für den Betrieb. Bildquelle: Museum Neuthal.
Textilien seien uns sehr nahe, erklärt Museumsleiterin Baur. Wir alle tragen welche. Doch woher stammen diese? Bei der Herstellung von Kleidern gehe es damals wie auch heute um globale Wirtschaftsverflechtungen. Man sei als Textilmuseum verpflichtet auch darauf ein Augenmerk zu legen und sich mit Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen. Aktuell kann man in einer Sonderausstellung mehr über die verschiedenen Textilrohstoffe erfahren.
In der Industriekultur stecke noch viel touristisches Potential, ist Nora Baur überzeugt. In der Schweiz sei man sich noch zu wenig bewusst, dass man auch ein Pionier der Industrialisierung gewesen sei, inklusive aller Schattenseiten für die ländliche Bevölkerung. Die Lage in der Natur mache die ehemaligen Industrieorte aber heute nicht nur zu spannenden, sondern auch schönen Ausflugszielen.
3. Die einst grösste Schuhfabrikation der Welt
Was heute vielleicht «On» ist, war früher «Bally». Der Schweizer Schuh, den die ganze Welt an den Füssen trägt, damals aber noch «made in Switzerland». Schönenwerd im Kanton Solothurn war einst der Hotspot der globalen Schuhproduktion, dank Bally. In den goldenen Zeiten waren bis zu 7500 Personen angestellt. Man war führend in der Mode und führend in technischen Aspekten der Fabrikation.
Man sieht sie, man hört sie, man riecht sie. Die Maschinen laufen. Es ist das Gegenteil eines langweiligen Museums.
14'000 Paar Schuhe konnten pro Tag produziert werden. Um das Jahr 1900 sei das ein absoluter Rekord gewesen, erzählt Philipp Abegg. Er ist der Präsident der Stiftung Ballyana, die sich für den Erhalt des Kulturerbes der Region einsetzt. Denn 2001 hat die Schuhmarke Bally Schönenwerd verlassen. Damit endete eine fast 200 jährige Industriegeschichte, die 1820 mit der Produktion von Bändern begonnen hatte.
Ballyana – Das Erbe der grössten Schuhfabrik der Welt
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Bild 1 von 6. Heute erklären auf Führungen freiwillige Fachpersonen, wie die unterschiedlichen Maschinen einst funktionierten. Eine Vielfalt von Maschinen sind noch funktionstüchtig. Bildquelle: Ballyana.
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Bild 2 von 6. In der ehemaligen Produktionshalle der Bandweberei Bally sehen, hören und riechen die Besucher, wie früher gearbeitet wurde. Bildquelle: Ballyana.
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Bild 3 von 6. Die aktuelle Sonderausstellung ist dem «Bally Monsieur – Der Herrenschuh seit 1851» gewidmet. Es ist eine spannende Reise durch über 100 Jahre Herrenschuhentwicklung, schuhtechnische Innovationen, Modeschöpfung und Reklame bei Bally. Bildquelle: Ballyana.
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Bild 4 von 6. Der Leisten aus Holz, welcher der Form eines Fusses nachempfunden ist und zum Bau eines Schuhs verwendet wurde. Bildquelle: Ballyana.
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Bild 5 von 6. Eine Webmaschine mit Kettfäden in allen möglichen Farben. Bildquelle: Ballyana.
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Bild 6 von 6. Eine Sohlenstempelmaschine lieferte das Firmenlogo. Bildquelle: Ballyana.
Nur in einer Produktionshalle rattert es auch noch heute. Im Ballyana Museum kann man heute in authentischer Atmosphäre in die Industriegeschichte eintauchen. Diverse noch funktionierende historische Webmaschinen, die älteste Sulzer Dampfmaschine der Schweiz und Maschinen aus der Schuhfabrikation können nach wie vor zum Laufen gebracht werden.
Fachkundige Freiwillige erklären die Funktionen. Zudem können diverse Fabrikate angefasst werden, was insbesondere auch für Kinder attraktiv sei. Ein Besuch ermöglicht den Blick in die Vergangenheit hilft die Gegenwart zu verstehen und Hoffnungen in die Zukunft zu setzen, meint Präsident Abegg. Die Schweizer Industriegeschichte berge noch ein grosses Potential.