Die Schweiz liegt mitten in Europa. Umgeben von einer rund 2000 Kilometer langen Aussengrenze, die wir mit den Nachbarstaaten Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein teilen. Grenzen bilden sprachliche und kulturelle Unterschiede. Grenzen verbinden aber auch, sagt Kulturvermittler Bernhard Graf.
SRF: Grenzen sind gerade in ländlichen Gebieten nicht immer sichtbar markiert. Was bemerken Sie als erstes, wenn Sie eine Landesgrenze überschritten haben?
Mir fällt auf, dass auf der anderen Seite der Schweiz die Fensterformen anders sind als bei mir zu Hause. Auch die Zeitungen sind gerade in Italien grösser als bei uns.
Strassenschilder haben eine andere Farbe und sind anders beschriftet.
Es gibt hunderte von ästhetischen Merkmalen. Aber auch die Sprache wechselt, die Essenszeiten oder die Essgewohnheiten zeigen Grenzen auf.
Auch heute noch werden Grenzen verschoben, was zieht eine solche Verschiebung alles mit sich?
Vielfach neue Regelungen, neue Zuständigkeiten, neue Normen wie zum Beispiel Grenzwerte von Schadstoffen. Heute werden Landesgrenzen meistens nur noch aus praktischen Gründen verschoben. Zum Beispiel zu Gunsten der Landwirtschaft.
Es ist einfacher einen Acker gerade zu pflügen und nicht in mehreren Bogen.
Wichtig ist: wer Land verliert, muss auch wieder gleichviel oder zumindest gleichwertiges Land bekommen. Danach braucht es einen Vertrag. Anschliessend wird dieser umgesetzt. Als letztes machen beispielsweise neue Strassen- oder Wanderwegschilder die Änderung sichtbar.
Auch die Schweizer Grenze verlief nicht immer gleich. Was waren die grössten Grenzänderungen für die Schweiz?
In der Folge des Wiener-Kongress 1815 verlor die Schweiz das Veltlin ohne Ersatz. 1856/57 führte der sogenannte Neuenburgerhandel dazu, dass das einstige Fürstentum Neuenburg definitiv nicht mehr unter preussischem Einfluss stand, wodurch die Grenze zu den Nachbarkantonen Waadt, Freiburg und Bern zu einer eindeutigen innerschweizerischen Kantonsgrenze wurde.
Und das Wallis stand 1810-1813 als Département du Simplon unter französischem Einfluss, wurde dann für zwei Jahre österreichisch verwaltet und ebenfalls 1815 definitiv ein Schweizer Kanton.
Blieb die Schweizer Aussengrenze seit der Mitte des 19. Jahrhunderts also unverändert?
Ja, obschon Mussolini, der spätere italienische Ministerpräsident und Diktator, 1921 davon sprach, dass die Grenze Schweiz-Italien eigentlich am Gotthard liegen müsse.
Für Mussolini war das Tessin ein verdeutschter Kanton, der für die italienische Einheit eine Gefahr darstellte.
Glücklicherweise blieb es aber bei den Drohungen. Mussolini bestand jedoch darauf, der italienischen Exklave Campione, den Zusatz «d’Italia» zu geben.
Sie haben das halbe Leben in Grenzorten gewohnt. Im ehemaligen Kloster Paradies bei Schaffhausen, Basel oder jetzt in Pugerna, Tessin. Wie verschieden sind ihre Erfahrungen als Grenzanwohner?
Eigentlich ist es überall das gleiche Bild. Ob Deutschland, Frankreich oder Italien: Es ist Ausland, die sogenannte Fremde mit allem, was an Unterschiedlichem, Spannendem, Unverständlichem oder Aufregendem dazu gehört.
Grenzen trennen aber nicht nur, sondern verbinden auch. Zum Beispiel Menschen, die sich über Grenzen treffen und lieben.
Aber natürlich wird man auch mit den Problemen konfrontiert. Gerade hier im Tessin, wo täglich bis zu 70'000 Grenzgänger von Italien ins Tessin zur Arbeit fahren. Hier im Tessin wird diese Tatsache und die sich dahinter verbergenden Themen aus meiner persönlichen Sicht problematischer gesehen, als zum Beispiel in der Region Basel.
Aber die Strassen verstopfen auch hier die Schweizer Einkaufstouristen; das ist in Genf oder Basel oder Kreuzlingen nicht anders.
Das Gespräch führte Marcel Hähni