«Das Wort des Jahres soll abbilden, was 2021 bei uns Diskussionen ausgelöst und die Menschen bewegt hat.» Das sagt die Linguistin Marlies Whitehouse. Mit SRF orakelt sie über mögliche und unmögliche Wortkandidaten.
SRF: Wir haben auch 2021 die üblichen Verdächtigen «Covid» und «Klima». Was ist für Sie vorstellbar in diesem «Wörter-Jahrgang»?
Marlies Whitehouse: Wirklich spannend ist für mich, dass jedes Jahr neue Wörter entstehen. Das zeigt, dass die Sprache lebt. Dieses Jahr zum Beispiel hat mich das Wort «verimpfen» fasziniert, in der Kombination «Serum verimpfen» zum Beispiel. Man kennt «impfen» und man kennt die Vorsilbe «ver-», wobei «impfen» positiv konnotiert sein kann, «ver-» aber oft bei negativen Wörtern vorkommt wie vergessen, verlieren usw. Bei «verimpfen» vermischt sich das und in dieser Kombination habe ich das 2021 neu gelesen.
Dieses Jahr gab es auch heftige Diskussion um die sogenannte Gendersprache und um Geschlechtsidentitäten, also Wörter wie «Genderstern», «nonbinär» oder «fluid». War dieser Diskurs stark genug, um Chancen fürs Wort des Jahres zu haben?
Auf jeden Fall. Viele Organisationen müssen sich ja überlegen, wie sie das lösen wollen mit der Kommunikation gegenüber den Kunden und Kundinnen, aber auch den Mitarbeitenden. Das braucht Zeit, bis sich alle daran gewöhnt haben. Und es stellt sich auch die Frage, wie detailliert man sich sprachlich überhaupt festlegen will. Dieses Thema wird uns noch lange beschäftigen.
Wie muss man sich denn die Jurydiskussionen vorstellen? Worüber wird da gestritten?
Diskutiert wird darüber, wie relevant ein Thema war und ob man es überhaupt aufnehmen will in die engere Auswahl. Bei Corona erübrigt sich diese Frage natürlich. Aber welches ist ein geeigneter Überbegriff? Wenn in der Diskussion fünf Begriffe zu Covid übrigbleiben, dann stellt sich die Frage: Wo steckt ein Wortspiel drin oder in welchem Wort zeigen sich unterschiedliche Facetten?
Wir hören in die Wörter hinein und fragen uns: Was sagen sie alles?
Letztes Jahr zum Beispiel kam «Maskensünder» auf Rang 2. Diskutiert wurde in der Jury auch «Nasenblüttler» als typisch schweizerisches Wort. Aber im «Maskensünder» steckt auch die Sünde drin, die Plage, die man mit diesem Virus hat. Wir hören in die Wörter hinein und fragen uns: Was sagen sie alles? Am Ende ist der Entscheid immer einstimmig.
Warum muss es eigentlich ein Wort sein, das eh schon überall zu lesen war? Man könnte doch wie bei den Tieren oder Pflanzen des Jahres ein Wort nehmen, auf das man besonders hinweisen will, weil es gefährdet oder wichtig ist. Ein Hörer schlug uns «zäme» vor, wie es in Wörtern wie «zämestaa» oder «zämehebe» vorkommt. Hätte dieses Wort eine Chance?
Ich sehe die Idee und kann sie mittragen. Und ich glaube, die Schweizerinnen und Schweizer versuchen schon, «zäme» etwas zu machen. Aber die Realität, über die geredet wird, der Diskurs, ist eben gerade nicht «zusammen».
Wir sind deskriptiv, nicht präskriptiv. Wir zeigen mit dem Wort des Jahres nicht, was sein sollte, sondern, was war.
Und vor allem: Wir bilden mit dem Wort des Jahres nicht eine Vision ab, sondern beschreiben, was gewesen ist. In der Wissenschaft geht es nicht darum, politisch Stellung zu beziehen, sondern zu analysieren, was ist.
Deutschschweizer «Wort des Jahres» 2017 bis 2020
1. Platz | 2. Platz | 3. Platz | |
2020 | systemrelevant | Maskensünder | stosslüften |
2019 | Klimajugend | OK Boomer | Flugscham |
2018 | Doppeladler | Rahmenabkommen | 079 |
2017 | #metoo | weglachen | Influencer |