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Radio SRF 1 Klassenfotos und die ewige Frage, was die Zeit aus uns macht

Die Schulzeit prägt jeden Menschen nachhaltig, in der Klasse ist man jahrelang Teil einer grossen Gemeinschaft. Danach trennen sich die Wege. Was bleibt, ist die Erinnerung – und angegilbte Bilder die uns zeigen, wo wir herkommen.

Karol Wojtyla auf einem Klassenfoto.
Legende: Lebenswege, Teil 1: Oben links Karol Wojtyla, besser bekannt als Papst Johannes Paul II. Keystone

Klassenfotos sind seltsam zeitlos. Sicher, die Moden ändern sich, aber heute wie damals scheinen sich Schülerinnen und Schüler des bleibenden Eindrucks bewusst zu sein, den diese Aufnahme hinterlassen wird. Sie nehmen Haltung an, schauen neugierig, frech oder kreuzbrav in die Kamera, legen die Arme um die besten Kollegen oder verschränken sie selbstbewusst vor der Brust. Dann macht es klick.

Klassenfotos frieren ein Lebensgefühl ein

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Das Bild dokumentiert die gemeinsamen Ursprünge, friert die Zeit und das zugehörige Gefühl für uns ein: Auf dem Bild bleibt die Klassenbeste für alle Ewigkeit die Klassenbeste, der Klassenclown der Klassenclown. Erst nach der Schulzeit werden die Karten neu gemischt, und die Klassengemeinschaft zerfällt nicht selten in eine Zweiklassengesellschaft. Einige machen Karriere, für andere steht das Familienleben im Zentrum und manchen spielt das Leben durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit übel mit.

Vergangenheit und Gegenwart in Einklang bringen

Wladimir Putin auf einem Klassenfoto.
Legende: Lebenswege, Teil 2: Wladimir Putin suchte schon in der Schule die Nähe zur Macht – er sitzt links neben der Lehrerin. Keystone

Die Bilder wandern in Alben und gehen vergessen, während die Schülerinnen und Schüler von einst ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Erst mit dem Abstand von einigen Jahren werden die alten Fotos wieder wichtiger. Dann nämlich, wenn es darum geht, die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang zu bringen – und die Bilder einfach nicht mehr übereinstimmen wollen.

Der Klassenclown von einst ist inzwischen hochseriöser Finanzberater, die Streberin lebt ein Aussteigerleben in Argentinien, der Schwarm von damals ist dick geworden und der Störenfried mit den chronisch schlechten Noten macht das grosse Geld.

Automatisch beginnt der Betrachter sich mit denen zu vergleichen, die den gleichen Start ins Leben, die gleiche Bildung hatten. Wo komme ich her, was habe ich in der Zwischenzeit erreicht und wo stehe ich heute? Bin ich mit meinem Leben, meinem Werdegang zufrieden, oder habe ich zu wenig aus meinen Chancen gemacht? Nichts ist mehr wie damals in der Schule, als jeder seine Rolle hatte und die Zukunft noch ein unbeschriebenes Blatt war.

Ein Klassentreffen ist eine Zusammenkunft von Menschen, die früher einmal gleich alt waren.
Autor: Herkunft unbekannt

All diese Gedanken begleiten uns ans Klassentreffen, wo die Gespräche sich später am Abend meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner konzentrieren: Die Erinnerungen an das, was war. Der strenge Physiklehrer, die gemeinsamen Streiche, die vielen Annekdoten, die mit dem wachsenden zeitlichen Abstand immer grossartiger werden. Wenn die Geschichten rund um die jungen Gesichter auf dem alten Bild wieder lebendig werden, verschwimmen alle aktuellen Unterschiede im wohligen Gefühl der Gemeinsamkeiten. Der Kreis schliesst sich, das Klassenfoto hat seine Schuldigkeit getan. Für dieses Jahr.

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