Am 15. September 1989 verändert sich Marcel Stalders Leben für immer. Er ist 21 Jahre jung, trainiert mit dem Turnverein für den jährlichen Turnerabend.
Marcel möchte etwas versuchen, was er nie zuvor gemacht hat: den doppelten Salto. Er nimmt Anlauf. Springt. Und landet auf dem Kopf. Er will wieder aufstehen. Aber er kann seine Arme und Beine nicht mehr bewegen.
Die ersten zwei Jahre habe ich mir überlegt, wie ich dieses Leben beenden kann.
Im Spital kriegt er die Diagnose: Tetraplegie. Er wird nie wieder laufen können. Von den Schultern an abwärts spürt er nichts mehr.
Im Rollstuhl auf Weltreise
Ich treffe Marcel daheim im Baselbiet, wo er mit seiner Mutter lebt. Zum ersten Mal von ihm gehört habe ich via Facebook, dort bin ich auf seine Bücher und seinen Reiseblog gestossen. Der heute 51-Jährige bereist im Rollstuhl die Welt.
Marcel zeigt seine Souvenirs: Magnete aus Thailand oder Kambodscha. Bilder aus New York und Guatemala. «Mein Zimmer ist ein Museum meiner Reisen», sagt er lachend.
Der Traum von Amerika
Die ersten Jahre nach dem Unfall waren hart. Vor allem die Nächte seien schlimm gewesen. Aber in einer dieser Nächte kam ihm auch eine Idee, ein Traum, der ihn nicht mehr loslassen sollte: Amerika!
Marcel reist mit seinen Eltern und Freunden in die Staaten. Die Reise wird für ihn zur Qual: Vom Flug hat er Druckstellen, unterwegs muss er wegen Fieber ins Spital. Nach drei Wochen USA verbringt er wegen den körperlichen Rückschlägen zuhause fünf Wochen in der Reha.
Ich bin glücklicher als vor meinem Unfall.
Aber Marcel lässt sich nicht beirren. Dank dem Internet kann er sich informieren und plant wieder eine Reise in die USA. Monatelang reist er in einem rollstuhlgängigen Camper durch die USA, gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Cousin.
Er beginnt zu schreibend. Verarbeitet so seine Geschichte. Zwei Bücher hat er veröffentlicht. Woher nimmt er seine Kraft? Die habe er vermutlich einfach in sich, meint Marcel.
Ist Krisenbewältigung lernbar?
Ich frage mich, warum manche Menschen scheinbar leichter als andere ihre Krisen bewältigen. Ist das lernbar? «Ja», sagt die Psychologin Nadira Hotz.
Der Mensch muss lernen, dass er es schaffen kann.
Ich treffe sie im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, wo sie arbeitet. Hotz ist seit einem Unfall in der Jugend im Rollstuhl.
Mit ihr spreche ich über Resilienz. «Wenn ich merke, dass ich es geschafft habe eine schwierige Situation zu bewältigen, dann habe ich gelernt, dass ich selbstwirksam bin», erklärt Hotz.
Ist Resilienz lernbar? Das beginne schon in der Erziehung, sagt Hotz. Werden Kinder gestärkt? Lernen sie, selber zu entscheiden?
In der Situation selber könne auch die Psychologie weiterhelfen. In Ratgebern lese man, dass man optimistisch sein müsse und das Glas halb voll sehen müsse. «Aber ich kann nicht mit sowas zu unseren Patienten gehen und sagen, seien sie optimistisch. Da muss man ganz behutsam vorgehen.»
Man muss die dramatische Situation anerkennen, das braucht Zeit.
So individuell jede Geschichte ist, so individuell ist auch Hotz’ Arbeit. Welche Ressourcen, welche Stärken hat der Mensch? Auf diese müsse man aufbauen, damit das Problem bewältigt werden kann. Oft sei den Betroffenen gar nicht bewusst, welche Stärken sie in sich tragen.
Die eigenen Stärken erkennen
Marcel hat mit Hilfe von seiner Familie und seinen Freunden, aber auch mit einer eigenen Kraft zurück in ein erfülltes Leben gefunden.
Ich habe immer weitergehen wollen.
Er sei heute glücklicher, als vor dem Unfall: Die Reisen haben seinen Horizont erweitert und ihm gezeigt. «Diesen Weg musst du weitermachen!»