Bier ist klar das meistgetrunkene alkoholische Getränk in der Schweiz: Der jährliche Pro-Kopf-Konsum liegt seit einigen Jahren bei etwa 55 Litern. Laut «Alkoholkonsum 2017», einer Untersuchung des Bundes, trinken 43 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal pro Woche Bier. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die Schweizer Bieraffinität erst spät entwickelt hat.
SRF: Bier hat sich in der Schweiz erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Spielte es vorher gar keine Rolle?
Matthias Wiesmann: Bier wurde zeitweise in Klöstern und grösseren Städten gebraut. Aber von Bier oder Bierbrauen ist in den früheren Quellen relativ selten die Rede. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass es als Getränk für breite Bevölkerungsschichten eine untergeordnete Rolle spielte. Anstösse zum Bierbrauen kamen meist von aussen, beispielsweise von deutschen Fuhrknechten, die in der helvetischen Provinz ihr Lieblingsgetränk vermissten.
Warum hat sich Bier so lange nicht etabliert?
Hierzulande hatte man den sauren Most mit einem ähnlich starken Alkoholgehalt, sodass man sich auch ohne Bier berauschen konnte. Die Äpfel als Rohstoff dafür waren leicht verfügbar. Getreide wie Gerste, Weizen oder Hafer hingeben war in der Schweiz eher knapp und wurden gebraucht, um die Bevölkerung zu ernähren – und nicht um Bier zu brauen.
Hinzu kam der Wein als Konkurrenz: Gerade ab dem 11. Jahrhundert verbreitete sich der Weinbau in der Schweiz – aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen.
Mitte des 19. Jahrhunderts trat das Bier dann seinen Siegeszug an. Wie kam es dazu?
Das hatte unterschiedliche Gründe. Zuallererst: Man hatte damals den Brauprozess, insbesondere die Funktion der Hefe, auch chemisch verstanden und konnte Bier in grosser Masse herstellen. Weiter erleichterte der Ausbau des Eisenbahnnetzes die Beschaffung der Bier-Rohstoffe. Zudem wurde die Kühlmaschine erfunden, dank der man Bier auch im Sommer trinken konnte. Die Zürcher Brauerei Hürlimann war übrigens die dritte Brauerei Europas, die eine Kühlmaschine anschaffte. Und es kamen neue Bierflaschen zum Einsatz, die das Fass ergänzten und es ermöglichten, dass man Bier plötzlich überallhin mitnehmen konnte.
Unabhängig von diesen neuen Technologien hat die Industrialisierung damals eine neue Arbeiterschicht entstehen lassen, für die Bier eine günstige Alternative zum stark besteuerten Schnaps war. Gleichzeitig verteuerte sich auch der Wein infolge von fatalen Rebkrankheiten.
Und schliesslich entstanden im 19. Jahrhundert viele Schützen-, Turn- und Musikfeste oder patriotische Gedenkfeiern, die für den massenhaften Genuss leicht alkoholhaltiger Kaltgetränke wie Bier geradezu prädestiniert waren.
Inwiefern ist der holprige Weg des Biers in der Schweiz heute noch zu spüren?
Man spürt dies im Vergleich mit Wein, über den ein breiteres Wissen vorhanden ist. So gehört eine recht umfangreiche Weinkarte in Schweizer Restaurants meist dazu. Beim Bier hingegen ist es so, dass die Mehrheit der Menschen in der Schweiz zwar das helle Bier kennt, aber fast nichts weiss über die speziellen Sorten. Und es ist bisher nicht richtig gelungen, beim Bier eine Art Swissness zu entwickeln – wie das bei der Schokolade mit der Zugabe von einheimischer Milch der Fall war. Die Schweizer Brauereien versuchen das zwar, bisher aber mit mässigem Erfolg.
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