Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass rund ein Drittel der Eltern seinen Kindern nicht vorliest. «Vorlesen ist keine Selbstverständlichkeit», sagt Barbara Jakob. Der Schweizer Vorlesetag am 26. Mai will Kinder und Erwachsene dazu animieren.
SRF: Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Barbara Jakob: Wir sind eine vielbeschäftigte Gesellschaft. Eltern, denen früher auch nicht vorgelesen wurde, delegieren das Vorlesen oft an die Schule.
Dabei wäre das Vorlesen insbesondere im Vorschulalter nützlich?
Es würde auf vielen Ebenen helfen. Über 20 Prozent der Schulabgängerinnen und Schulabgänger haben Schwierigkeiten beim Lesen. Der Prozentsatz der Jugendlichen, die in der Freizeit nicht gerne lesen, ist noch höher. Da wäre es definitiv hilfreich, wenn die Kinder schon früh Zugang zu Geschichten hätten und so ihre Lesemotivation gestärkt würde.
Um Lesefreude zu entwickeln, muss ein Kind schon früh erfahren, dass es sich lohnt zwischen Buchdeckel zu blicken.
Warum ist Vorlesen wichtig?
Beim Vorlesen passiert viel. Es stärkt das Vorstellungsvermögen, das Kopfkino. Zudem erweitert es den Wortschatz und die sprachlichen Kompetenzen. Ganz nebenbei lernt das Kind aber auch soziale Kompetenzen fürs Leben, zum Beispiel die Fähigkeit zuzuhören oder sich zu konzentrieren.
Beim gemeinsamen Vorlesen lernt ein Kind ganz «en passant» wichtige Kompetenzen fürs Leben.
Und dadurch lesen die Kinder später lieber?
Die Kinder haben bessere Startchancen in der Schule, weil sie die Freude des Vorlesens in die Schule mitnehmen, auch wenn es beim Lesenlernen streng wird. Sie kennen das selbstbestimmte Lesen, das einmal möglich sein wird und haben daher eine grössere Motivation.
Vorlesen braucht Zeit. Wären da Hörspiele nicht eine Alternative?
Das Plus beim Vorlesen ist die Interaktion. Mehrere Hirnareale sind dabei aktiv. Forscher konnten aufzeigen, dass Hirne von Kleinkindern, denen viel vorgelesen wurde, agiler sind und stärker auf neue Geschichten reagierten. Sie können mehr vom Gehörten verarbeiten als leseungewohnte Kinder.
In den USA sind Kinderärzte dazu angehalten den Eltern das tägliche Vorlesen zu empfehlen.
Inwiefern profitieren die Erwachsenen vom Vorlesen?
Die Bindung zum Kind wird gestärkt. Wir verbringen Zeit zusammen und erleben gemeinsam Geschichten. Keine Reaktion bleibt verborgen, sei es ein Zappeln, der gespannte oder ängstliche Blick in den Augen oder ein Gähnen.
Vorlesen ist Beziehung pur.
Kann man mit dem Vorlesen aufhören, wenn das Kind in die Schule kommt?
Nein! Machen Sie weiter, solange es das Kind möchte. Insbesondere dann, wenn ein Kind in der Schule selbst lernt zu lesen, denn das ist ein strenger Prozess. Das Vorlesen zu Hause ist ein Geschenk. Es macht Spass. Die Kinder erfahren, warum es sich lohnt die Buchstaben zu lernen.
Und was soll man vorlesen? Klassiker oder moderne Geschichten?
Beides. Wichtig ist, dass man das Buch mit dem Kind zusammen auswählt. Wenn ein Kind über Wochen immer die gleiche Geschichte will, dann ist das so. Das bedeutet, dass das Kind mit dem Buch noch nicht abgeschlossen hat. Oder es gibt dem Kind emotionale Sicherheit, zu wissen was als Nächstes kommen wird.
Am Vorlesetag wollten Sie mit verschiedenen öffentlichen Anlässen auf die Wichtigkeit des Vorlesens hinweisen. Das ist nun nicht möglich.
Das ist schade, aber auch eine grosse Chance. Wir können die Niederschwelligkeit des Vorlesens ins Zentrum rücken. Vorlesen kann man immer und überall. Es braucht dazu kein Tam-Tam, keine Veranstaltung.
Der diesjährige Vorlesetag fokussiert «coronabedingt» noch stärker auf die Familien. Dort findet die Hauptarbeit statt, was das Vorlesen betrifft, insbesondere bei jüngeren Kindern. Und ich hoffe, dass viele Familien, gerade in diesen stressigen Zeiten das Vorleseritual auch als eine Zeit schätzen gelernt haben, in der man zur Ruhe kommen und sich regenerieren kann.