Tim Cook liess sich in der Eröffnungspräsentation (hier nachschauen) der alljährlichen Entwicklerkonferenz «WWDC» in San Francisco aussergewöhnlich lange Zeit. Erst nach einer Stunde und 45 Minuten setzte er zum berühmten «one more thing» an – und präsentierte dann das, was alle erwartet hatten: «Apple Music», den neuen Streaming-Dienst.
Die Überraschungen waren als nicht im Grossen, sondern eher im Kleinen zu finden – beispielsweise soll «Apple Music» ab Herbst auch für Android-Smartphones verfügbar sein.
Ende Juni in 100 Ländern, 10 Dollar pro Monat
«Apple Music» wird ab dem 30.6. in rund 100 Ländern verfügbar werden. Ob die Schweiz auf dieser Liste steht, wurde uns bis jetzt zwar noch nicht offiziell bestätigt, doch ein Fehlen wäre überraschend. In den USA wird der Dienst 10 Dollar pro Monat kosten.
Dieser Preis ist vergleichbar mit anderen Streaming-Diensten, beispielsweise von Marktführer Spotify. Im Vorfeld der Präsentation war gemunkelt worden, Apple habe den Preis tiefer ansetzen wollen, sei von der Musikindustrie aber daran gehindert worden. Dort hat man kein Interesse an einem Preiskampf und drohendem Preiszerfall.
In iTunes und Musik-App integriert
«Apple Music» wird in einer neuen Version der bestehenden Musik-App von iOS und in iTunes integriert. Das bedeutet, dass alle Musik, die man bereits gekauft oder von einer CD importiert hat, weiterhin in dieser App verfügbar bleibt. Sämtliche Playlists natürlich auch. Dazu kommt nun noch der Zugriff auf den gesamten Musik-Katalog, laut Apple rund 30 Millionen Songs.
Apple denkt dabei auch an die Familie, eine weitere kleine Überraschung: Zusätzlich zum 10-Dollar-Abonnement wird es ein Familien-Abonnement geben. Für 15 Dollar im Monat können bis zu sechs Familien-Mitglieder Musik streamen, ohne sich gegenseitig die Vorlieben zu verwässern.
Von Hand ausgewählte Vorschläge
Doch über den Preis allein kann sich Apple nicht von der Konkurrenz absetzen. In der Präsentation betonte Industrielegende Jimmy Iovine deshalb, dass die Playlists und Vorschläge für neue Musik nicht nur von Algorithmen zusammengestellt würden, sondern von Menschen. Apple denkt dabei nicht nur an eigens angestellte Spezialisten, sondern auch an prominente Gäste, Musiker oder DJs. Die Vorschläge basieren auf dem Inhalt der bestehenden Bibliothek und dem Hörverhalten und werden unter «For You» präsentiert.
Genau dafür hat Apple vor fast genau einem Jahr den Streaming-Dienst «Beats» von Iovine und Dr. Dre gekauft, für die stolze Summe von drei Milliarden Dollar. Wie gut diese Auswahl im Alltag und bei besonderem Geschmack dann tatsächlich ist, wird sich erst noch weisen müssen.
Soziales Netzwerk für Musiker und Radio-Station
Des Weiteren integriert Apple in «Music» eine Art soziales Netzwerk für Musikerinnen und Musiker: Sie können ihre Fans direkt in der App erreichen, ihnen neue Tracks vorspielen oder Fotos und Videos aus dem Studio zeigen. Apple versucht, diese Fan-Interaktion in ihrer App zu bündeln, statt sie fragmentiert bei Instagram, Facebook oder Twitter stattfinden zu lassen.
Und schliesslich lanciert Apple auch gleich noch einen eigenen globalen Radio-Sender, «Beats 1». Drei DJs werden live aus Los Angeles, New York und London senden und ihre Musik-Auswahl präsentieren.
Weg vom Kaufen, hin zum Mieten
Die ganze Musikindustrie bewegt sich schwungvoll in Richtung Streaming. Apple hat das zu spüren bekommen; in letzter Zeit gingen die Verkäufe von Musik-Downloads im iTunes Store zurück. Das Konsumverhalten verändert sich: Musik wird nicht mehr gekauft, sondern gemietet. Bereits 23 Prozent des Umsatzes mit digitaler Musik wird so erzielt.
Doch diese Entwicklung steht erst am Anfang: Rund 40 Millionen Kunden bezahlten letztes Jahr für ein Streaming-Abonnement. Apple hat gegenüber der Konkurrenz einen grossen Vorteil: Dank App Store und iTunes haben bereits sehr viele Kundinnen und Kunden ein Konto bei Apple und ihre Kreditkarte hinterlegt – 800 Millionen Kreditkarten-Nummern hat Apple bereits im System.
Damit ist die Hürde, sich ein «Apple Music»-Konto einzurichten, deutlich tiefer als bei der Konkurrenz. Die Zielgruppe von Apple dürfte deshalb auch nicht die Personen sein, die jetzt bereits bei Spotify ein Abo bezahlen. Sondern die Mehrheit, die noch nicht streamt. So hat Apple gute Chancen, die Musikindustrie wieder so stark zu dominieren, wie das bereits damals mit iPod und iTunes gelang.
Ausserdem ist davon auszugehen, dass Musik-Konsumenten mehr als ein Streaming-Abo besitzen werden. Denn die Anbieter werden versuchen, einzelne Künstler exklusiv an ihren Dienst zu binden – eine neue Platte von Beyoncé beispielsweise würde dann ausschliesslich oder zumindest früher für die Abonnenten eines Dienstes zu hören sein. Das wird aber nur mit Mega-Stars funktionieren, und die wollen ihren Fans nicht den Zugang verwehren – also ein nur beschränkt einsetzbares Mittel.
Andere Dienste werden eine Nische suchen und gezielt Musik anbieten, die bei den Grossen nicht verfügbar ist.
Mehr Umsatz dank Streaming
Während Musiker aktuell noch gerne über den sinkenden Wert ihrer Musik klagen und dafür Streaming-Dienste verantwortlich machen, könnte sich diese Verschiebung für die Industrie trotzdem als Segen erweisen. Denn nur schon die 150 Franken, die wir für ein Abo schön zuverlässig jedes Jahr ausgeben, sind mehr als das, was früher durchschnittlich für CDs ausgegeben wurde.
Es könnte also mehr Geld in die Musik-Industrie fliessen – was auch der Grund ist, warum alle auf Streaming und Abos setzen. Ausserdem erlaubt Streaming eine viel genauere Kontrolle des Hörverhaltens als ein Download – gewiefte Künstler und Platten-Labels werden Wege finden, diese Daten zu vergolden.