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Digital «Late Shift»: Interaktiver Kinofilm als App

Student und Parkwächter Matt gerät in einen Raubüberfall. Diesen Thriller schauen wir nicht nur passiv, sondern greifen immer wieder in die Handlung ein. Interaktion mag für Kinofreunde ungewohnt sein – für Gamer aber nicht. Und aus dieser Sicht lässt «Late Shift» zu wenig Kontrolle zu.

In «Late Shift» begleiten wir den Studenten Matt. Der stellt sich auf eine ruhige Nacht als Wächter in einem Parkhaus in London ein. Stattdessen muss er bei einem Raub einer chinesischen Antiquität aus einem Auktionshaus mitmachen.

Die Handlung dieses Films beeinflussen wir. Solche interaktiven Filme zu produzieren ist die Grundidee des Schweizer Startups «CtrlMovie». Nun erscheint ihr erster Film in diesem Format, als App und im Kino.

«Late Shift» in App und Kino

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Der interaktive Film «Late Shift» hat Weltpremiere am 9. März im Kino RiffRaff in Zürich. Schweizer Kinostart ist am 17. März im Kino Houdini in Zürich, später in anderen Städten.

Die App erscheint am 10. März für iOS.

Im Kino funktioniert «Late Shift» so: Immer wieder erscheint auf der Leinwand die Aufforderung, die nächste Handlung Matts auszuwählen. Das Publikum hat dann einige wenige Sekunden Zeit, auf der «CtrlMovie»-App auf dem eigenen Smartphone eine der zwei oder drei Optionen anzutippen. Die Mehrheit entscheidet, wohin die Handlung verläuft.

Die Idee, dieses interaktive Erlebnis überhaupt in Kinosäle zu bringen, kam erst im Laufe des Projektes. Die Macher versprechen sich ein Gemeinschaftserlebnis – eine zufällige Gruppe muss sich zusammenraufen und bestimmt den Inhalt des Films gemeinsam. An der Pressevorführung empfand ich das allerdings eher als frustrierend: Ich möchte Verantwortung für die Handlung des Protagonisten übernehmen, werde aber immer wieder von der Mehrheit überstimmt.

Die App ist wichtiger als der Film im Kino

Ausserdem kann so keine konsistente Figur entstehen. Geht Matt im einen Moment noch ein gewaltiges Risiko ein, ist er im nächsten plötzlich vorsichtig. Ich hatte den Eindruck, dass das Publikum eher die Option wählte, die Action oder Überraschungen versprach – und sich wenig um ein stimmiges Innenleben Matts kümmerte.

Mehr zum Erlebnis im Kino hier:

Wichtiger ist deshalb die ursprüngliche Idee von CtrlMovie: den Film als App zu schauen. Das erste Kapitel des Films ist gratis; wer den ganzen Film sehen will, zahlt zehn Franken (teurer als die meisten Apps, aber billiger als ein Kino-Eintritt).

In der App habe ich nun die volle Kontrolle – ich schaue den Film und kann selber bestimmen, was Matt tut. Ich kann also endlich versuchen, seine Rolle konsistent zu spielen. Denn das ist für mich das zentrale Argument für die Interaktion: Matt ist meine Spielfigur; ich übernehme für seine Handlungen die Verantwortung und tauche so in den Film ein.

Beeindruckende technische Leistung

Die Kapitel-Übersicht des Films.
Legende: In einem Kapitel erneut einsteigen, um einen anderen Verlauf auszuprobieren. Screenshot

Zunächst muss man die technische Leistung anerkennen. Das Budget von eineinhalb Millionen ist knapp – insbesondere, da ungefähr vier Stunden Filmmaterial gedreht wurden. Die Geschichte hat sieben verschiedene Enden, ein Durchgang dauert etwa 60 bis 80 Minuten.

Jede Entscheidung fügt sich nahtlos in den Film ein, der Fluss unterbricht nie. Wenn wir wollen, können wir jederzeit pausieren oder zu einem früheren Kapitel zurückspringen und andere Varianten durchprobieren.

Dass das alles reibungslos läuft, ist anspruchsvoll – nicht nur für das Drehbuch, das alle möglichen Handlungsstränge im Griff haben muss. Auch für die tollen Schauspieler, die Szenen x-fach und jeweils völllig anders spielen; und Kamera und Schnitt, die so drehen und schneiden, dass alle möglichen Stränge immer sauber zusammenpassen.

Produktion von «CtrlMovie»

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«Late Shift» wurde mehrheitlich aus privaten Geldern finanziert. Der «Pacte de l’Audiovisuel» der SRG SSR und «Swissgames Call for Projects» der Pro Helvetia unterstützten mit Fördergeldern. SRF hat koproduziert.

Doch auch wenn das einzigartige Experiment reizvoll und technisch gelungen ist: «Late Shift» scheitert für mich an inneren Widersprüchen.

Trotz Interaktion meistens passiv

Zunächst einmal habe ich nur selten wirklich die Kontrolle über die Hauptfigur Matt. Im Schnitt alle eineinhalb bis zwei Minuten fälle ich eine Entscheidung – dazwischen läuft die Handlung ohne mein Zutun. Ich bin also trotz Interaktion meistens passiv.

In einem Game wäre ich dagegen fast immer aktiv, selbst dann, wenn eigentlich nichts passiert. So bewege ich beispielsweise eine Spielfigur aktiv. Games überlassen mir meist die Kontrolle und nehmen sie mir nur ab und zu weg, um einen Moment besonders zu betonen. Hier ist es exakt umgekehrt – meist hat der Film die Kontrolle, ich darf nur ab und zu eingreifen.

Scheinentscheidungen

Ich fällte jeweils etwas mehr als 30 Entscheidungen pro Durchlauf. Würde jede dieser Entscheidungen die Geschichte tatsächlich in zwei Handlungsstränge teilen, hätten wir es mit mehr als einer Milliarde möglicher Stränge zu tun. Das ist natürlich unmöglich – deshalb beeinflussen viele getroffenen Entscheidungen die Handlung kaum, oder zwei Stränge finden nach einer Weile wieder zusammen.

Matt steht im Lift und muss entscheiden, ob er beim Raub mitmacht.
Legende: Verhindern oder mitmachen? Screenshot

Besonders zu Beginn wird das deutlich: Um die Geschichte überhaupt in Gang zu bringen, muss Matt aus dem Park- in das Auktionshaus kommen. Wenn wir uns diesem Verlauf aktiv verweigern, nimmt uns der Film an der Hand und führt uns auf den Hauptstrang zurück. Auch hier wird uns Kontrolle also nur vorgegaukelt.

Um die Vielfalt der Möglichkeiten zu testen, spielte ich Matt als zwei sehr unterschiedliche Figuren – in einem Durchgang versuchte ich ihn als Egoist zu charakterisieren, dessen Hauptmotivation seine persönliche Sicherheit ist. Und in einem zweiten als selbstlosen, risikobereiten Held wider Willen.

So führte die Handlung durch unterschiedliche Schauplätze, Matt verhielt sich völlig anders – doch schliesslich gelangten die zwei Handlungsstränge zu einem fast identischen Ende. Das mag Zufall sein, doch es illustriert eben deutlich, dass der Erzähler die Handlung bestimmt und nicht ich.

Unterlaufene Erwartung und Zeitdruck

Entsprechend unterläuft das Drehbuch oft gezielt meine Erwartung – wählte ich eine vorsichtige Option, eskalierte die Situation erst recht. Das mag aus der Perspektive des Erzählers reizvoll sein. Doch es signalisiert mir, dass meine Entscheidung unerwartete Konsequenzen haben kann und mindert so mein Gefühl, die Handlung aktiv zu kontrollieren.

Ausserdem habe ich nie lange Zeit für eine Entscheidung, sondern muss in wenigen Sekunden reagieren (sonst wählt das Spiel entweder eine voreingestellte oder zufällige Option). Dieses Zeitlimit ist technisch notwendig, denn nur so ist es möglich, dass der Film immer flüssig weiterläuft.

Matt steht im Gang eines Büros.
Legende: Auch komplexere Interaktion ist möglich: Wo soll Matt hingehen? Screenshot

Doch dieses Limit erschwert mir, die Rolle Matts konsequent zu charakterisieren. Soll ich einen Wachmann warnen oder nichts sagen? Welche dieser Optionen ist die egoistisch-sichere und welche die selbstlos-riskante? Hier zwingt mich der laufende Film zu einer schnellen Bauchentscheidung und lässt mir keine Zeit, über das Handeln der Figur nachzudenken.

Zudem verstärkt selbst die Geschichte von «Late Shift» den passiven Eindruck. Matt hat den Überfall ja nicht geplant, sondern stolpert in die Situation, findet sich in einem Thriller, ohne das zu wollen. Wenn meine Figur passiv ist, fällt es mir schwerer, aktiv zu sein.

Zu viele Widersprüche

«Late Shift» bietet mir also zu wenig Interaktion, um wirklich Verantwortung für die Hauptfigur übernehmen zu können. Es bleibt die Möglichkeit, verschiedene Handlungsverläufe durchprobieren zu können. Das kann zwar reizvoll sein, doch es reicht mir nicht, weil schlicht nicht jede der möglichen Geschichten gleich gut ist.

Vielleicht ist auch der Heist-Film mit unfreiwilligem Helden das falsche Genre für das Konzept. CtrlMovie überlegt sich bereits, als nächstes eine romantische Komödie zu drehen – möglicherweise passt das besser zusammen.

Doch im Erstling «Late Shift» reibt sich noch alles an allem. Im Kino reibe ich mich am Mehrheitsentscheid. In der App reiben sich meine Kontrolle mit dem Fluss der Handlung, den Einfällen des Drehbuchs und den mathematischen Grenzen.

Deshalb fällt auch besonders auf, dass Hauptfigur Matt laufend über Entscheidungen, Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten philosophiert. Das Wesen von Interaktion auch noch in der Geschichte selbst zu reflektieren – und erst noch in der nicht-interaktiven Form der Off-Stimme: Dieser Versuch ist dann definitiv eine Pirouette zu viel.

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