1. Bringt die Analyse eigener Daten überhaupt etwas?
Florian Schumacher ist Pionier der deutschen Quantified-Self-Bewegung – kurz QS – und verdient damit mittlerweile seinen Lebensunterhalt (siehe Infobox rechts). Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass so genanntes Self-Tracking einen Nutzen haben kann. Zum einen aus dem Austausch mit Gleichgesinnten, die mit tragbaren Messgeräten und Apps ihren Puls, Blutdruck, Kalorienzufuhr und Schlaf analysieren. Zum zweiten auch aus persönlicher Erfahrung. «Man hat selbst oft nicht den klaren Blick dafür», sagt er.
Als Beispiel nennt Schumacher eine Diät bei sich selbst: Nachdem er durch gezielte Ernährung «zunächst nett abgenommen» hatte, folge eine Phase, in der das Gewicht nicht mehr sank. Erst aus dem Abgleich mit selbst erfassten Körpermassen erkannte er, dass sein Krafttraining einen Zuwachs bei der Muskulatur zur Folge gehabt hatte – und dieses Plus beim Gewicht wiederum hatte den Abnehm-Effekt aufgefangen.
«Die Frage ist doch», sagt Stefan Selke von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Furtwangen (siehe Infobox rechts), «warum jemand dafür ein Gerät braucht.» Bewegung, Work-Life-Balance, gute Ernährung, genug Wasser: Wie man ein gesundes Leben führt, sei heutzutage eigentlich doch bekannt.
Dass Selbstkontrolle mit Daten zuweilen positive Folgen haben kann, würde der Soziologe gar nicht bestreiten. Am Anfang mache das vielleicht auch Spass, sagt er, doch in Gesprächen mit QS-Anwendern bekomme man statt vertiefter Einsichten oft «Banalitäten zu hören». Zum Beispiel «Es hat mir gut getan, mich mehr zu bewegen».
2. Wie ist die Bilanz von Quantified Self?
Für Schuhmacher überwiegen die Vorteile – allein schon, weil beispielsweise die Erfassung der täglichen Schrittzahl dazu motiviert, mehr auf die Bewegung zu achten. Und weil Erfolge aus den Analysen den Erfolg einer gesünderen Lebensweise auch sichtbar machen. «Durch Rolltreppen, Autos, Strassenbahnen sind wir Menschen immer weniger in Bewegung», sagt er, «und umgeben von Werbung für schlechtes Essen. Die Selbstanalyse sehe ich als Gegenakzent – als Chance, eigene Impulse zu verstärken.»
Der Soziologe Selke beurteilt die Selbstkontrolle von Joggern per App oder Messarmband zwar nicht per se negativ – doch er sieht «eine Art Kategorienfehler, der sich hier einschleicht». Statt sich auf das Phänomen zu konzentrieren, um das es eigentlich geht, widme man sich nur einer messbaren Oberfläche. «Wenn ich bestimmte Aspekte wie Blutdruck oder Stimmungen vermesse, dann ist nicht gleichzusetzen mit Gesundheit oder Glück», sagt er, «das ist eine Gefahr, die ich sehe.»
3. Bekommen Selbstvermesser ein besseres Körpergefühl?
Davon ist Florian Schumacher, der die Praxis der Selbstvermessung seit Jahren beobachtet, überzeugt: Alleine schon die Aufmerksamkeit auf Dinge wie Pulsfrequenz, Ernährung oder Schlaf zu richten, verbessere die Sensibilität für den eigenen Zustand. Und eine veränderte Lebensweise, die zu messbaren Verbesserungen führt, würde die Datensammler positiv bestärken. Auch er selbst, so Schuhmacher, habe diese Erfahrung gemacht.
Stefan Selke sieht das ganz anders. «Das Gegenteil ist der Fall», sagt er, «man kann das Körpergefühl auch verlieren. Daten ersetzen es nicht, sondern liefern eine Scheinobjektivität.» Das Gefühl für den eigenen Körper sei etwas Ganzheitliches und lasse sich auch mit zahllosen Datenreihen kaum abbilden. Zudem sieht er die Gefahr von «Überdiagnosen», wenn Menschen vor lauter Analysen vergessen, ihr Leben gut zu führen und im besten Fall zu geniessen.
4. Geht es um Selbstdarstellung im Netz?
Die Tendenz, eigene Gesundheitsdaten im Internet mit denen anderer Menschen zu vergleichen, sieht Selke kritisch. Man offenbare sich mit dieser angeblichen Fitness auch auf Arbeits- oder Beziehungsmärkten. Zudem meint der Soziologe, dass es im Netz mehr um den Beweis der eigenen Leistung gehe als darum, vielleicht nützliche Hinweise auf das Körperwohl in den Daten zu finden – vor allem wohl bei Männern, denen der Konkurrenzgedanke näher liege als Frauen.
Die Selbstdarstellung und der Wettkampf, erwidert Schuhmacher, spielen bei Self-Trackern eine untergeordnete Rolle – zumindest im deutschsprachigen Raum. Befragungen zeigen laut dem Pionier der Selbstvermessung, dass höchstens 30 Prozent der Nutzer solcher Systeme einen Datenaustausch als Bereicherung empfinden. Doch wer gemeinsam mit Freunden ein Ziel anstrebt und dazu Daten austauscht, habe bessere Chancen, es zu erreichen – etwa bei der Kalorienzähler-App Noom, wo die Erfolgsquote durch diesen Ansporn mehr als verdoppelt wurde.
5. Warum ist die Szene männlich dominiert?
«Einige sagen, die Männer seien dabei, ihr Körpergefühl zurück zu entdecken», sagt Selke, «doch das ist ein sehr schwaches Argument.» Dass die Quantified-Self-Idee vor allem Männer anspreche, liege auch daran, dass es um technische Gadgets, Apps und Analysen gehe. Bei Veranstaltungen, die er besuchte, waren die Herren der Schöpfung jedenfalls klar in der Überzahl: «Das ist diese Teckie-Welt, die stark männlich geprägt ist.»
Laut Schumacher trifft das aber nur auf den «harten Kern» der Interessierten zu – zum Beispiel Leute aus der IT-Branche oder aus den Computerwissenschaften, die man auf Meetings der Bewegung antreffe. Und der mathematische Aspekt reizt offenbar tatsächlich: «Je tiefer es in die Datenanalyse geht, desto mehr Männer sind dabei.» Doch andererseits: Unter den normalen Nutzern kommerzieller Angebote ist der Anteil der Frauen höher. Beim Fitbit-System, das Schritte, Schlafphasen, Kalorienzufuhr und andere Kenndaten verarbeitet, «liegt er über 60 Prozent», so Schumacher.
6. Werden wir bald vom Arbeitgeber vermessen?
In der Schweiz hat die Swiss Re ihren Angestellten bereits ein Gerät zur Verfügung gestellt, mit dem die tägliche Schrittzahl erfasst wird – auf freiwilliger Basis und gekoppelt mit einem Wettbewerb. Der britische Detailhändler Tesco hat Angestellte mit elektronischen Armbändern ausgestattet, um ihre Effizienz während des Arbeitstages zu kontrollieren, und im Ausland bieten Krankenkassen schon Online-Ranglisten mit Gesundheitsdaten an.
Für Schumacher ist noch offen, ob solche Versuche dereinst zum Normalfall werden. «Das ist im Moment ein Experimentierfeld», sagt er, «ob Versuche wie Versicherungsrabatt-Systeme auf der Basis von Gesundheitsdaten nachteilig sind, ist offen. Ich würde so etwas nicht per se ablehnen; manches kann ja auch eine nützliche Anregung sein.»
Doch falls sich derartige Systeme allgemein durchsetzen würden, befürchtet Selke, dass Menschen, die den vorgegebenen Normen und Mittelwerten – sei es bei Gesundheit oder Arbeit – nicht entsprechen, diskriminiert werden könnten. Es gäbe, ob sachlich gerechtfertigt oder nicht, «digitale Versager», wie er sagt – und schlimmstenfalls einen digitalen Klassenkampf.