Ausgerechnet ein altes Buch aus dem 19. Jahrhundert war für Tim Berners-Lee die Inspiration für eine der wichtigsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts: das World Wide Web. «Enquire within upon Everything» hiess der Ratgeber für den viktorianischen Alltag. Über eine ausgedehnte Stichwortsammlung bot er Antworten auf Fragen zu allen Lebenslagen – von Fleckenentfernung bis zum Verfassen eines Testaments. Dieses Universum, in dem man sich über alles informieren kann, fasziniert Tim in seiner Jugend. Es hatte bereits gewisse Ähnlichkeiten mit dem Web, schrieb er Jahre später in seinen Memoiren. Realisieren konnte er es auch dank der Impulse aus seinem Elternhaus.
Vater und Mutter sind Mathematiker und arbeiten in den 1950er-Jahren an der Entwicklung des ersten kommerziellen Computers. Sie sind begeistert von der neuen Maschine. Gleichzeitig wissen sie aber auch um deren Schwäche: Im elektronischen Hirn ist Information statisch abgelegt. Computer können nicht wie ein menschliches Hirn spontan Verbindungen herstellen. Als Jugendlicher diskutiert Berners-Lee mit seinem Vater darüber, wie man einem Computer Intuition beibringen könnte. Die Idee vom vernetzten Wissen lässt ihn nicht mehr los.
Der Durchbruch am CERN
Nach dem Physikstudium arbeitet Berners-Lee als Programmierer für verschiedene Firmen und entwickelt 1980 in seiner Freizeit ein Programm, mit dem er Dokumente auf seinem Computer verlinken kann: «Enquire» nennt er die Software – in Anlehnung an das Buch aus seiner Jugend.
1989 arbeitet er für das CERN in Genf und baut «Enquire» so aus, dass man auch Dokumente verlinken kann, die auf verschiedenen Computern liegen. Drei Dinge braucht es dazu, die schliesslich zum World Wide Web führten: eine Möglichkeit, Dokumente zu strukturieren (Hypertext Markup Language HTML) und zu adressieren (Uniform Resource Locator URL), so wie einen Mechanismus zum Laden einer Seite (Hyper Text Transfer Protokoll HTTP).
Zusammen mit dem jungen Ingenieur Jean-François Groff programmiert Berners-Lee in Rekordzeit den ersten Web-Server und -Browser. «Tim sprach sehr schnell, weil er noch schneller denken konnte!» erinnert sich Groff (ganzes Interview im Kasten links). Sogar etliche «hyper-intelligente» Wissenschaftler am Cern hätten oft Mühe gehabt, seinen Gedankengängen zu folgen. Groff selbst sei dies aber meistens gelungen – bis heute verbindet beide eine Freundschaft.
Angst vor der Abschottung
Bereits 1990 geht der erste Web-Server in Genf ans Netz. Von nun an ist es möglich, von irgendwo auf der Welt die einfache Web-Seite des CERN abzurufen. Voraussetzung dafür: ein Internet-Anschluss und ein Web-Browser. Die ersten, die angeschlossen werden, sind Universitäten. Da Web-Browser noch nicht verfügbar sind, machen sich auf der ganzen Welt Studierende daran, ihr eigenes Fenster ins Internet zu programmieren. Einer fällt dabei besonders auf: der 22-jährige Marc Andreessen von der University of Illinois.
Sein Browser «Mosaic» läuft bereits auf verschiedenen Betriebssystemen, als andere noch an ihren Prototypen basteln. Das entgeht auch dem gewieften Unternehmer Jim Clark (Silicon Graphics) nicht. Zusammen mit Andreessen gründet er 1994 «Netscape», die Firma, die den ersten Web-Browser für die breite Öffentlichkeit heraus gibt.
Einsatz für offenen Informationsaustausch
Tim Berners-Lee steht dieser Entwicklung skeptisch gegenüber. Er fürchtet, dass Unternehmen wie Netscape die Kontrolle über das Web erlangen wollen, indem sie die Standards für den Informationsaustausch abändern, so dass man Web-Seiten beispielsweise nur noch mit dem Netscape-Browser öffnen und lesen kann. Um dem entgegenzuwirken, gründet Berners-Lee das «World Wide Web Consortium», in dem alle grossen IT-Firmen gemeinsam einheitliche Standards erarbeiten und veröffentlichen.
Mit diesem Schritt hat sich Berners-Lee auch gegen die Gründung eines eigenen Unternehmens entschieden. Das hatte Konsequenzen. «Tim könnte heute Milliardär sein» sagt Jean-François Groff, der damals lange mit seinem Arbeitskollegen über diesen Entscheid diskutiert hatte. Während Clark mit Netscape zwei Milliarden verdiente, war für Berners-Lee klar: Der Zugang zu Informationen über alle Grenzen hinweg ist ihm wichtiger als der Erfolg als Unternehmer.