«Ich glaube nicht daran, dass es ein System für virtuelle Realität gibt, das zum einen die Erfahrung liefert, die sich alle wünschen, zum anderen nicht bei den meisten zu einer derartigen Übelkeit führt, dass sie es nie wieder verwenden wollen.» Das schreibt Steve Baker aufgrund seiner Erfahrung – er hat lange im Bereich der militärischen Flugsimulation gearbeitet.
Mit der Übelkeit spricht er die Simulatorkrankheit an, unter der Piloten leiden können, wenn sie etwa in Flugsimulatoren für Luftwaffeneinsätze üben. Dieselben Symptome können aber auch auftreten, wenn jemand eine VR-Brille aufhat. Solche Brillen schaffen derzeit den Sprung vom Profi zur Konsumentin: Oculus, HTC und Sony bringen ihre Modelle demnächst in die Läden und unter die Leute. Und damit möglicherweise auch die Übelkeit und andere Symptome.
Forschung steckt in den Kinderschuhen
Die Auswirkungen von virtuellen Systemen auf den menschlichen Körper sind schon länger bekannt. Auf die Simulatorkrankheit hin testet seit 1993 das so genannte «Kennedy Simulator Sickness Questionnaire». Dieser Fragebogen listet unter anderem folgende Symptome auf:
- Generelles Unwohlsein
- Müdigkeit
- Kopfschmerzen
- Schwitzen
- Schwierigkeiten, die Augen zu fokussieren
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Schwindelgefühl mit offenen oder geschlossenen Augen
- Aufstossen
- Übelkeit
Diese Symptome klingen nach einer Weile wieder ab, nachdem man die VR-Brille zur Seite gelegt hat.
Der Körper ist verwirrt: Halluzinieren wir?
Uns wird übel, da unser Körper widersprüchliche Signale bekommt – er versucht, wahrgenommene Eindrücke auszugleichen, die gar nicht existieren. Bewegen wir uns in der virtuellen Realität, so sehen wir auf den Bildschirmen eine Veränderung, während unsere Beine jedoch still stehen und das Gleichgewichtsorgan keine Bewegung ausmachen kann. Diese Diskrepanz verwirrt.
Einen ähnlichen Widerspruch erfahren die Augen: Sie schauen aus unmittelbarer Nähe auf die Monitore der VR-Brillen. Diese aber zeigen Dinge an, die in weiter Ferne liegen. Das strengt die Augen an, denn sie müssen immer wieder zwischen Nähe (den real existierenden Monitoren) und Ferne (der abgebildeten virtuellen Realität) fokussieren.
All diese Effekte verwirren das Gehirn, was dieses mit Übelkeit und anderen Symptomen quittiert. Evolutionsforscherinnen und -forscher gehen davon aus, dass dies eine Schutzreaktion ist: Der Körper nimmt an, wir hätten eine giftige Substanz gegessen und würden deshalb halluzinieren. Uns wird übel, damit wir erbrechen und so das Gift möglichst schnell wieder ausscheiden.
Hoffnung für virtuelle Games
Löst man hingegen die widersprüchlichen Sinneseindrücke auf, so verschwinden die Symptome. So ermöglicht das Schweizer Projekt «Birdly» den Vogelflug, ohne dass uns im Test übel wurde: Wir fliegen als Vogel in der virtuellen Realität, während wir in Vogelpose unsere Arme schwenken.
Unter 20 Millisekunden zum VR-Glück
Es gibt aber noch weitere Gründe für die Simulatorkrankheit. Der Computer muss bei jeder Bewegung des Kopfes die Bilder für die aktuelle Position neu berechnen. Dauert das länger als 20 Millisekunden, so wird einem schlecht.
Weitere technische Faktoren haben ebenfalls Einfluss: Etwa die Bildwechselfrequenz, der grosse Blickwinkel von VR-Brillen, wie präzise das VR-System meine Bewegungen in die virtuelle Realität überträgt und wie wir uns darin bewegen und handeln.
Gesellschaftliche Faktoren?
Es gibt verschiedene Studien zur Simulatorkrankheit und wer alles darunter leiden könnte. Diese vermuten, dass auch Faktoren wie Alter, Geschlecht und Ethnie eine Rolle spielen. In den Studien wird auch häufig zwischen den Geschlechtern eine Grenze gezogen: Frauen sollen anfälliger für die Simulatorkrankheit sein. Als Begründung wird der unterschiedliche Hormonhaushalt angeführt.
Diese Forschungsergebnisse lassen sich jedoch nicht einfach auf die heutigen, neuen VR-Brillen übertragen: Die meisten der bisherigen Studien sind zehn Jahre oder älter. Zudem beziehen sie sich auf andere Versuchsanordnungen und andere Simulatorensysteme, etwa auf die Ausbildung von Kampfpiloten oder das Autofahren. Zudem hat sich die Hardware, die zum Zeitpunkt der Studien verwendet wurde, bis heute stark weiter entwickelt.
Wer spielt, ist im Vorteil
Wie jemand auf eine Simulation reagiert, ist letztlich von Person zu Person verschieden. Ein wichtiger Aspekt ist sicher die Gewöhnung: Es ist anzunehmen, dass viele, die bereits mit Games aus der Ich-Perspektive Erfahrung mit virtuellen Welten gesammelt haben, sich rascher an virtuelle Realität anpassen können. Das sind statistisch gesehen mehr Männer.
Und jemand, der kaum mit Games in Berührung kam, dem wird es in virtuellen Realitäten leichter übel – das sind statistisch gesehen mehr Frauen. Das erklärt vielleicht die Grenze, die Studien zwischen den Geschlechtern ziehen.
Gewöhnung lautet das Stichwort
Letztlich sind VR-Systeme, wie sie jetzt auf den Markt kommen, wohl eine Sache der Gewöhnung: Wir haben jahrzehntelang auf flache Bildschirme gestarrt und bewegen uns erst seit den 90er-Jahren aus der Ich-Perspektive durch Game-Welten.
Auch wird die Hardware immer besser – die Latenz wird schrumpfen, die Auflösung feiner werden. All diese Faktoren verringern die Symptome der Simulatorkrankheit. Trotzdem wird es immer noch einen kleinen Anteil der Bevölkerung geben, dem es in der virtuellen Realität übel wird. Weshalb das so ist, wird hoffentlich die Forschung klären, die immer noch am Anfang steht.