Wer sich 1916 ins Cabaret Voltaire in Zürich wagte, dem Geburtsort des Dadaismus, der musste auf alles vorbereitet sein. Hugo Ball, Hans Arp, Sophie Täuber oder Marcel Janco, die dort auf der Bühne standen, provozierten ihre Zuschauer mit stammelnden Lautgedichten, mit atonaler Musik und wilden Tänzen.
Publikumsbeschimpfungen gehörten zum Repertoire. Alles sollte in Frage gestellt werden, die Grenzen des sogenannten guten Geschmacks als allererstes.
Diese Lust an der Provokation und Grenzüberschreitung wird auch heute im Internet gelebt – vor allem von der Figur des sogenannten « Trolls ».
Doch während die Dadaisten eine künstlerische Strategie verfolgten – getrieben vom nihilistischen Wunsch, alles in Frage zu stellen -, geht es den meisten Trollen nur darum, ordentlich auf die Pauke zu hauen. Provokation der Provokation willen. Doch es gibt auch Trolle mit ernsthaften Anliegen. Zum Beispiel die Gruppe Anonymous , die aus dem Internetforum 4chan hervorging, einer der berüchtigtsten Troll-Schmieden.
Mit den Mitteln der Kommunikations-Guerilla setzt sich Anonymous etwa für Redefreiheit ein, für ein offenes Internet und gegen die Überwachung durch staatliche Behörden. Dabei legt sie sich mit der Scientology-Sekte ebenso an wie mit der Terrororganisation Islamischer Staat.
Den Kampf gegen den IS zum Beispiel führt Anonymous mit durchaus dadaistischen Mitteln. Letzten Dezember rief die Gruppe zum internationalen «ISIS Trolling Day» auf. Das Ziel: Die Terrororganisation in sozialen Medien wie Twitter, Facebook und YouTube mit Fotomontagen und Spott-Videos ins Lächerliche zu ziehen.
Nihilismus bei Twitter
Sowieso scheinen dadaistische Ideen in sozialen Medien auf besonders fruchtbaren Boden zu fallen. So wie sich die Dadaisten mit ihren Aktionen gegen die etablierte Kunst richteten – also gegen ein System, dem sie selbst angehörten –, genau so machen sich viele Twitter-Benutzer mit Parodie-Konten über die Flut profaner Mitteilungen in sozialen Medien lustig. Und wie ihren dadaistischen Vorgängern zuvor ist auch ihnen nichts heilig.
Da gibt es etwa einen Benutzer namens Gott, der bei Twitter über 2 Millionen Jünger hat. Und diese mit niederschmetternden Sinnsprüchen wie diesem unterhält: «Jeder Tag ist eine neue Chance, den Glauben an die Menschheit zu verlieren.»
Ein anderer Twitter-Nutzer nennt sich Nihilist Arby's – und verbindet Spott über die amerikanische Fast-Food-Kette Arby's mit einem kompromisslosem Nihilismus, der alles Bestehende in Frage stellt. Als Neujahrvorsatz stand dort zum Beispiel: «Gib auf. Geh zu Arby's. Setz dich hin. Bleib sitzen. Lass dich von der Bedeutungslosigkeit des Lebens umhüllen. Stirb. Sei für immer vergessen.»
Von der Collage zum Mashup
Im Internet sind dadaistische Methoden keiner künstlerischen Avant-Garde mehr vorbehalten, sondern alltägliche Ausdrucksform einer ganzen Generation geworden: Zur Unterhaltung, zum Kommentieren des aktuellen Zeitgeschehens oder für politische Statements.
So kann es passieren, dass jemand sämtliche Reden des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nach dem Wort «China» durchkämmt und daraus ein dreiminütiges Youtube-Video zusammenschneidet. Und Trump so in bester Dada-Manier auf die sinnfreie Aneinanderreihung dieses einen Wortes reduziert.
Collagen wie diese schaffen komplexe neue Formen und neue Bedeutungsebenen für das Publikum. So wie auch die die Dadaisten vor hundert Jahren Fotos ausschnitten, neu kombinierten, in anderem Kontext zusammenzuklebten und ihnen so eine neue Aussage verliehen.
Mashups und Lautgedichte
Bloss heissen die heutigen Collage-Werkzeuge nicht mehr Schere und Leim, sondern Photoshop und Musik-Editor. In der Internet-Kultur spricht man von « Mashups », wenn bestehende Texte, Bilder, Töne, Videos und Daten aller Art zu neuen Inhalten kombiniert werden.
Zum Beispiel dieses Musikstück, das sich aus Geräuschen einer Motorsäge, umfallender Bäume und eines SOS-Morsecodes zusammensetzt. Im Youtube-Video des britischen Künstler-Duos Hexstatic gibt es die passenden Bilder dazu: Rodung im Regenwald.
Eine Aneinanderreihung von Klangfetzen, die dem Dadaisten Kurt Schwitters bestimmt gefallen hätte. Seine « Sonate in Urlauten » hatte der allerdings noch ohne technische Hilfsmittel komponieren müssen.
Zum 100. Geburtstag von Dada begibt sich SRF Kultur auf Spurensuche – im Radio, Fernsehen und online. Denn: Dadas Geist lebt. SRF Kultur weiss wo. Hier geht es zum Themenschwerpunkt «Big Dada».