«Europa Universalis» ist eine Strategiespiel-Reihe mit dem Anspruch, eine glaubwürdige historische Simulation zu präsentieren. Nun denn, hier ist die Geschichte, die ich erlebt habe.
Ich wähle Kastilien als die Nation, deren Geschicke ich für die nächsten fast vier Jahrhunderte lenken soll. Das Spiel setzt Mitte 15. Jahrhundert ein, also wenige Jahrzehnte vor der Entdeckung Amerikas. Weil ich schon als Bub Entdecker- und Seefahrer-Geschichten verschlungen habe, will ich nun selbst ein Schiff gen Westen losschicken und als Erster den Fuss in die Neue Welt setzen.
Nicht nur militärische Optionen
Westlich von mir könnten die Portugiesen das Gleiche planen. Im Osten der iberischen Halbinsel liegt mein Rivale, das Königreich Aragón mit Barcelona und València. Doch zunächst muss ich mich um die « Reconquista » kümmern: In Granada und Gibraltar haben sich noch die Überreste des einst glorreichen Kalifats von Córdoba festgesetzt, und als Katholik will ich die Araber aus Spanien vertreiben.
Das gelingt mir schnell, und diese frühen militärischen Erfolge steigen mir zu Kopf. Die Katalanen in Aragón provozieren mich, erheben Anspruch auf eine meiner Provinzen und verhängen ein Handelsembargo. Ich antworte mit einem Angriff auf València – ein Fehler. Denn Aragón ist mit Frankreich verbündet, und das nutzt sofort die Gelegenheit, mir ein paar nördliche Provinzen um den Golf von Biskaya wegzuschnappen und damit ihren Einfluss auf den wichtigen Handelsplatz in Bordeaux zu stärken. Im Zweifrontenkrieg habe ich keine Chance – ich muss auf einen früheren Speicherstand zurückgreifen.
Handelsmacht
Nachdem ich einen Abend verschwende, verschiedene Kriegsstrategien durchzuprobieren (Angriffe auf Portugal, Navarra, gar Marokko), muss ich einsehen, dass unprovozierte Angriffskriege wohl nicht meine Stärke sind. Ich beschliesse, Kastilien neu zu erfinden: Die Nation soll ab nun eine friedliche Handelsmacht sein, sich durch Diplomatie die Nachbarn vom Hals halten – und möglichst bald gen Westen segeln.
Das gelingt. Ich schicke meine Gesandten nach Portugal, nach Frankreich, in den Vatikan und sichere mir wichtige Verbündete. Auch den Katalanen reiche ich die Hand – ich ignoriere ihre steten Provokationen und lasse ihnen von meinen Diplomaten Honig ums Maul schmieren.
Und siehe da, 1468 sehen sie ein, dass Frieden allen nützt und bieten mir eine Personalunion an – unsere Herrscher heiraten, Aragón schwört mir Treue, in ein paar Jahrzehnten müsste ich das Reich vollständig integrieren und Spanien gründen können.
Im Westen verlässliche Freunde, im Osten zukünftige Untertanen: Ich nutze den iberischen Frieden, um meinen Handel auszubauen und fleissig neue Ideen zu entwickeln. Dafür muss ich administrative, diplomatische oder militärische Macht ausgeben. Diese Ressourcen wachsen abhängig von den Fähigkeiten meines Monarchen und anderen Faktoren stetig nach und werden für alles benötigt: Neue Einheiten entdecken, Bauten wie Docks oder Marktplätze in Auftrag geben oder Kolonisten vorbereiten.
Verrat
Und so erfreue ich mich am wachsenden Wohlstand meines Reiches. Sogar meine Missionare in Grenada machen Fortschritte, die besiegten Araber von den Vorteilen des Katholizismus zu überzeugen – ab und zu mit etwas Nachhilfe meiner Soldaten.
Es hätte mich nicht überraschen sollen: Nicht mal zwanzig Jahre, nachdem sie mir Treue geschworen haben, wählen die Katalanen ihren eigenen König und lösen die Union mit Kastilien einfach auf. Verräter!
Doch ich lasse mich nicht in einen ruinösen Krieg hineinziehen. Ich stärke meine Beziehungen zu Frankreich und Portugal, damit die Katalanen nicht wagen, mich anzugreifen. Und treibe die Kolonisation voran – die werden sich noch wundern, die fiesen Katalanen, wenn ich Schiffsladungen Gold importiere und sie auf ihren dreckigen Eselskarren hocken!
Auf in die Neue Welt
Eine Kolonie zu gründen ist allerdings einfacher gesagt als getan. Abhängig davon, wie weit eine Nation sich entwickelt hat, ist die Reichweite ihrer Kolonisten eingeschränkt. Schliesslich müssen die ja aus der Heimat versorgt werden können. Meine reicht nicht bis über den Atlantik – was ich nach dem Verlust mehrerer Schiffe schmerzlich eingestehen muss. Ich kolonisiere also zunächst die Kapverden vor der Küste Westafrikas, als Sprungbrett.
Dann schicke ich eine Flotte unter dem Entdecker Gonzalo de la Vega los – und gebe ihm sicherheitshalber auch gleich eine kleine Armee von Konquistadoren mit, unter der Führung von Carlos de Ayala.
Am 3. Januar 1498 ist es soweit: Wir treffen auf Curaçao und St. Kitts ein. Meine Spanier setzen erstmals ihren Fuss in die Neue Welt. Beim Erkunden des neuen Kontinents merken meine Konquistadoren allerdings bald: Die Portugiesen waren schon vor uns da.
Während ich versuche, die neuen Kolonien über Wasser zu halten, bahnt sich zu Hause Unheil an. Portugal gerät in einen Krieg mit Frankreich – meine beiden wichtigsten Verbündeten sind plötzlich gleichzeitig mit sich selbst beschäftigt. Ihr dürft drei Mal raten, wer diese Gelegenheit beim Schopf packt.
Natürlich: Die verräterischen Katalanen. Sie halten meine jahrzehntelange Grossmut nicht mehr aus und erklären mir den Krieg.
Wird Kastilien die dreckigen Verräter besiegen? Wird die soeben ausgebrochene Reformation die Grundfesten meiner katholischen Nation erschüttern? Werden meine Kolonien im Sumpf und Dschungel überleben? Wird es Kastilien bis ins 19. Jahrhundert schaffen?
Alternative Geschichte
Dass mich diese Fragen so sehr beschäftigen, ist der Verdienst dieses grossartigen Spiels. «Europa Universalis IV» schafft es, alternative Geschichte zu erzählen, die detailliert, hochkomplex, spannend und glaubwürdig ist.
Zunächst muss man sich allerdings durch die Komplexität kämpfen. Das Spiel ist wie eine gewaltige Datenbank mit unzähligen Fenstern und Knöpfen und Handlungsoption. Ein paar Tutorials zu Beginn erklären zwar die grundlegende Bedienung, doch dann knallt uns das Spiel seine ganze überwältigende Komplexität vor den Kopf und wirft uns ins kalte Wasser. Es sagt laut und deutlich: Wenn du nicht bereit bist, diese erste grosse Hürde zu überwinden, dann ist das kein Spiel für dich.
Hohe Hürden
Wir können: Handel verbessern, in dem wir Händler platzieren, die den Warenfluss lenken oder Gewinne abschöpfen; versuchen, den Papst zu kontrollieren; Missionare entsenden; Beziehungen zu anderen Nationen knüpfen, beleidigen, spionieren, Cousinen verheiraten; Flotte und Armee verwalten, Generäle und Admirale anheuern; unser Staatsbudget gestalten; die Denker unserer Nation Ideen entwickeln lassen, die das Wirtschaftssystem verändern oder die Lust am Entdecken wecken. Alles beeinflusst alles: Stabilität, Kultur, Religion, Wirtschaft.
«Conquest of Paradise» Erweiterung
An der aktuellen Erweiterung «Conquest of Paradise» ist neu, dass wir auch Kolonien als Nation spielen können, beispielsweise Brasilien oder die britischen Kolonien in Nordamerika. In diesen Patchnotes findet sich eine detaillierte Liste.
Für mich am wichtigsten ist allerdings diese simple Idee der Erweiterung: Zu Beginn eines neuen Spiels können wir auswählen, ob der amerikanische Kontinent seine echte geografische Form haben soll – oder ob er zufällig generiert wird. Das macht das Entdecken der Neuen Welt zu einem echten Entdecken: Wir segeln los, nach Terra Incognita, ohne zu wissen, was wir vorfinden. Um so aufregender ist dann der Moment, wenn wir auf Land treffen.
Meine Geschichte
Das ist genau das Faszinierende an diesem Spiel: Dass Geschichten entstehen, dass Geschichte entsteht. Und zwar im Kopf, denn das Spiel selbst ist sehr technisch und abstrakt. Doch wenn ich nacherzähle, was ich gestern erlebt habe, und nachdenke, was ich morgen tun will, dann verdichtet sich dieses Erlebnis zu einer Geschichte, zu meiner Geschichte.
«Europa Universalis IV» mag für viele zu kompliziert sein. Ich habe nach vielen Stunden immer noch das Gefühl, gerade erst an der Oberfläche gekratzt zu haben. Genau das ist grossartig.
«Europa Universalis IV» ist für PC, Mac und Linux. Es ist ab 12. Die Erweiterung «Conquest of Paradise» ist erschienen; soeben wurde eine weitere angekündigt: «Wealth of Nations». Das Haikiew ist hier.
Unterschiede zu «Europa Universalis III»
Wie komplex das Spiel ist, zeigt sich auch an den Veränderungen gegenüber der Vorläuferversion. Das PDF , das alle Unterschiede auflistet, ist über vierzig Seiten lang. Einige der wichtigeren seien aufgezählt, auch weil sie gut illustrieren, wie detailliert diese Simulation ist.
So hat die Fähigkeit des aktuellen Herrschers einer Nation mehr Gewicht; um zu simulieren, dass halt in einem monarchischen System das Geschick des Mannes an der Spitze zentralen Einfluss auf die Entwicklung der Nation hat.
Historische Ereignisse sind neu dynamisch: So ist das Angebot der Personalunion von Aragón und Kastilien einem echten historischen Ereignis nachempfunden. Aber es findet nicht an einem bestimmten, von vornherein festgelegten Datum statt, sondern abhängig von der Entwicklung des Spiels.
Wir können Rivalen unserer Nation definieren. Was natürlich die Beziehungen verschlechtert, aber umgekehrt auch verbessert mit jenen Ländern, die den selben Rivalen haben.
Die Kriegsführung wurde stark verändert; nicht nur bezüglich der Strategie in einer Schlacht. Sondern auch bei den Optionen, die wir haben, um einen Frieden auszuhandeln. So können wir neu beispielsweise vom Besiegten verlangen, Handelseinfluss abzutreten. Das ist auf Dauer vorteilhafter, weil es nicht nur zusätzliche Einnahmen bringt, sondern sie dem Gegner vorenthält – eine schöne Möglichkeit, einen Rivalen langfristig zu schwächen.
Und die Haltungen der Nationen zu einander sind nicht mehr automatisch gegenseitig. Kastilien vertraut England, aber England hasst uns – weil ich mich mal geweigert habe, ihnen in einem Krieg gegen Schottland zu helfen. Aber echt, was sollen meine braungebrannten Andalusier da oben in den kalten Highlands?