Kritiker jubeln
Noch nie hat mich ein erster Eindruck eines Spieles so getäuscht. Meine ersten Stunden mit «Animal Crossing: New Leaf» hinterliessen mich ratlos. Warum ist das Ding bloss so erfolgreich? Die Spiele der Serie haben sich 15 Millionen mal verkauft; die neueste Ausgabe in Japan und Korea allein bereits 4 Millionen. Von mir hoch geschätzte Kritiker wie Tom Bramwell, Christian Donlan oder Christian Nutt schreiben glühende Reviews und durchdachte Analysen. Mich beschlich das Gefühl, etwas ganz Wesentliches zu übersehen.
Also hielt ich durch – und je länger ich «Animal Crossing: New Leaf» spiele, desto mehr überzeugt es mich mit viel Charme. Das Spiel öffnet sich denen, die geduldig sind, sich entspannen und dem Spiel vertrauen.
Zack, ein Schuldenberg
Wenn wir zu Beginn in das kleine Städtchen ziehen, liegt das alles noch im Verborgenen. Wir werden zwar gleich zum Bürgermeister ernannt, aber viel gibt es noch nicht zu tun. Ein paar herzige Tiere wohnen schon da: ein Hund namens Wastl, ein Hase namens Michelle und das Nashorn Frank. Ihre Häuschen stehen verstreut zwischen Apfelbäumen und einem Fluss; am Strand liegen Muscheln herum.
Die erste Nacht verbringen wir im Zelt, doch beim Waschbären Tom Nook, dem Immobilien-Hai, können wir einen Kredit aufnehmen und damit ein Haus bauen. Und zack, kaum sind wir angekommen, haben wir schon Schulden, 10'000 Sternis!
Warum soll ich arbeiten statt spielen?
Warum nicht Ruhe statt Aufregung?
Und so schauen wir uns um nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Wir können Äpfel von den Bäumen schütteln oder Muscheln sammeln. Und dann in einem Laden namens «Fundgrube» bei dem rosaroten Alpaka Rosina gegen Sternis verkaufen. Insekten fangen. Fische angeln. Fossilien ausgraben. Die entweder im Museum abgeben (wo sie dann in grossen Räumen ausgestellt werden) oder ebenfalls verkaufen.
In Echtzeit
Dabei folgt das Spiel der Echtzeit: Ist es Abend, ist es das auch im Spiel. Ist es Sommer, ist es das auch im Spiel. Wenn also eine Figur im Spiel sagt, das Haus werde morgen fertig, dann können wir nichts anderes tun, als bis morgen zu warten. Und wenn ein Fisch sich nur im Herbst fangen lässt, dann erwischen wir den im Sommer nicht.
Diese Grundmechanik schockierte mich regelrecht. Was, ich soll das ganze Jahr «Animal Crossing» spielen, wenn ich eine Chance haben will, alle Fische zu sammeln!? Was, ich muss bis morgen warten, bis das Haus fertig gebaut ist?! Was, ich kann meine Fische nicht mehr verkaufen, weil es schon elf Uhr war und die Fundgrube geschlossen hat?! Bleischwer legte sich die Aussicht über mich: Schulden abzahlen, arbeiten, dann konsumieren; eine unendliche Checkliste abhaken. Als ob wir davon nicht schon genug in unserem Leben hätten.
Doch hey, für euch blieb ich dran. Und Tag um Tag öffnete sich das Spiel. Die Bürgermeister-Sekretärin Melinda zeigte mir die Grundlagen; nach einer Weile konnte ich Verordnungen erlassen oder Bauwerke errichten, eine Parkbank oder eine Brücke bauen. Sie werden mit Spenden der Bürger bezahlt (,als hätte David Camerons Partei die Ideen für ihre « Big Society » bei Animal Crossing abgekupfert). Faktisch zahlen wir sie als Bürgermeister grösstenteils selbst.
Immer was los
Das Angebot im Kleiderladen oder bei den Brüdern Schlepp und Nepp änderte sich täglich; nach einer Weile bauten letztere ihren Laden aus. Am Sonntag kam die Rüben-Händlerin vorbei und eröffnete ein Aktienmarkt-Minispiel: Rüben kaufen für 90-100 Sternis, mit etwas Glück für über 250 Sternis verkaufen. Bis Samstag, sonst werden sie schlecht.
Am Pier erschien der Käpt`n und bot an, mich auf die Ferien-Insel von Herrn Törtel zu schippern. Wo wir dann nicht nur ein Aloha-Hemd kaufen und bei Hawaii-Musik am Strand tropische Fische fangen können, sondern auch an tollen Ausflügen wie «Anfängerhämmern» teilnehmen können. Und auf der Fahrt hin und zurück singt der Käpten schön traurige Lieder von Abenteuer und Sehnsucht, von Mädchen, Matrosen und Sauerkrautfässern.
Und so geht immer etwas, es gibt immer etwas zu tun und wir verlieren uns darin. Wir entspannen uns und lassen los. Wir setzen uns zwar Ziele, aber die sind oft langfristig oder ausserhalb unserer direkten Kontrolle. Dadurch verschwindet der Druck, sie jetzt sofort mit möglichst viel Aufwand zu erreichen.
Ohne Zwang
«Animal Crossing» durchbricht alte Gamer-Gewohnheiten. Es diktiert den Rhythmus selbst und verhindert, dass wir uns in selbstzerstörerische Sammelorgien stürzen. Unzählige aktuelle Spiele benutzen Zeit, um uns künstliche Hindernisse in den Weg zu legen. Sie manipulieren unser Verlangen so, dass wir dieses Hindernis überwinden wollen. Und dann hängen sie die Karotte vor unsere Nase: Überwinde das Hindernis mit echtem Geld.
So missbraucht uns «Animal Crossing» nicht. Es beruhigt stattdessen: Das, was du jetzt willst, gibt es später; kein Weg führt daran vorbei. Warte. Habe Geduld. Vertrau mir, du kriegst bald etwas. Lass dich überraschen. Freue dich auf morgen. Statt uns pausenlos befriedigen zu müssen, erzieht es uns. Bringt uns den Wert des Wartens bei. Vorfreude ist besser als schnelle Befriedigung.
Klar überrascht das, wenn die Latte so tief liegt!
Was ist daran schlecht?
Also spielen wir nicht mehr in erster Linie, um etwas zu erreichen. Sondern um einfach etwas Zeit zu vertreiben und uns dabei zu entspannen. Zeit verbringen mit den netten Tierchen.
Und die sind neben der Mechanik und dem entspannten Tempo der zweite Grund, warum «Animal Crossing: New Leaf» so charmant ist. Wer in unserem Dorf wohnt und wer später zuzieht, wird zufällig aus einem grossen Charakter-Ensemble ausgewählt. Damit unterscheidet sich mein Erlebnis von eurem: In eurem Dorf wohnen wohl ganz andere Viecher.
Zufällige Dramolette
Gleich beim ersten Treffen mochte ich Frank, das Nashorn. Er hat nur Sport im Kopf, brüllt und schnaubt und trainiert hart. Er ist genau das, was die Amerikaner einen « Jock » nennen. Er erinnert mich an an «Frank The Tank», eine Figur von Will Ferell in der College-Komödie « Old School ». Doch nachdem Frank zu Beginn noch T-Shirt und Sport-Shorts trug, zog er sich nach ein paar Tagen plötzlich um und trägt seither ein grünes Sommer-Röckchen. Das Testosteron-gesteuerte Nashorn Frank ist ein Cross-Dresser .
Oder Michelle, das Häschen. Sie wolle wegziehen, ob ich es schon gehört habe, fragt mich Warzi. Ausgerechnet dieser stinkige Kröterich, der mit seinem Wellblechverschlag mein idyllisches Dörfchen verschandelt und ständig herummuffelt. In Panik renne ich durch das Dorf und suche Michelle, die ich mag, weil sie jeden Satz mit «öhrchen» beendet. Ich finde sie endlich unten am Strand und kann sie im Gespräch überzeugen, doch zu bleiben. Michelle erzählt, dass Leute hinter dem Rücken anderer reden, und ich frage mich, ob sie vielleicht deswegen wegziehen wollte. Wird die Ärmste gar gemobt? Es ist bestimmt Warzi! Das war kein Zufall, dass gerade er mich selbstgefällig auf ihre Fluchtplänen hingewiesen hat, der Schuft!
Doch, natürlich war es Zufall. Genau so entstehen diese Dramolette. Die Charakterisierung der Figuren ist minimal, in kürzesten Sätzen. Was sie anziehen und was sie wann sagen, wird vom Spiel einfach zusammengewürfelt. Doch diese Schnipsel sind für uns Projektionsflächen. Wir reimen uns den Kontext zusammen. Man nennt das «Emergent Stories» und «Animal Crossing: New Leaf» setzt das Mittel meisterhaft ein.
So ist «Animal Crossing: New Leaf» unsere kleine Welt in der Tasche. Unser Dorf entwickelt seinen ganz persönlichen Charakter. Wir sind immer wieder gespannt, was unsere Tiere jetzt gerade treiben. Das ist meist zuckersüss und selten aufregend. Doch genau deswegen bietet «Animal Crossing: New Leaf» ein aussergewöhnlich entspannendes Spielerlebnis.
«Animal Crossing: New Leaf» ist für die Nintendo 3DS. Mein Freundescode ist 3609 - 1011 - 0840. Das Haikiew ist hier.
In einer ersten Fassung haben wir Michelle fälschlicherweise als Katze bezeichnet. Und Rosina ist kein Pony. Korrigiert.