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Eine Warteschlange vor einer Zürcher Gelateria
Legende: Der Gelateria-Boom hält an Gelato ist gefragt. Das zeigen die langen Warteschlangen an heissen Sommertagen wie hier in Zürich. Keystone/Walter Bieri

Gelateria-Boom Warum die Schweiz erst jetzt aufs Gelato kommt

Gelaterias sind erst in den letzten Jahren richtig angekommen hierzulande. Die späte Liebe hat auch politische Gründe.

Was sich an immer neuen Anbietern beobachten lässt, bestätigen auch Branchenkenner: Die Schweiz erlebt seit einiger Zeit einen Gelateria-Boom, der auch dieses Jahr weitergeht. Handgemachtes, lokal verankertes Glace ist so gefragt wie nie.

«Unsere Gelaterias laufen jedes Jahr besser», sagt Florian Stähli, CEO und Mitgründer von «Kalte Lust». Seine Firma betreibt Gelaterias in Olten und Zürich und beliefert mittlerweile fast in der ganzen Schweiz Restaurants oder Läden.

Extrem spürbar ist der Boom im Moment im Eventbereich.
Autor: Florian Stähli Geschäftsführer «Kalte Lust»

Auch die Nachfrage im Detailhandel und in der Gastronomie wächst stetig. «Extrem spürbar ist der Boom im Moment im Eventbereich. Nach den letzten zwei Corona-Jahren gibt es nun sehr viele Veranstaltungen, denen ein spezielles Glace-Angebot wichtig ist.»

Auch Ernährungsforscher Dominik Flammer beobachtet einen ungebrochenen Gelati-Boom. Ihn überrascht die grosse Zahl an Sorten, die dadurch entstanden ist: «Die Vielfalt ist grandios. Es gibt vor allem Produkte mit lokalen Zutaten, etwa Glace mit Felsenbirne aus der Stadt.»

Gelateria-Boom: Das sagen die Grossproduzenten

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Blick in die Produktion der Raketen-Glace zumdes 50-jährigem Jubiläum von Frisco.
Legende: Grössten Anteil am Glace-Kuchen haben die Grosshersteller Die Rakete gehört zu den absoluten Glace-Klassikern in der Schweiz. Keystone/Urs Bucher

Der allergrösste Teil des in der Schweiz verkauften Glaces kommt von Grossherstellern wie Lusso, Emmi oder Froneri. Sie sind nicht etwa besorgt über die neue Konkurrenz durch die Gelaterias, sondern sogar erfreut. Das zeigte eine Nachfrage beim Verband Glacesuisse. Geschäftsführerin Karola Krell sagt: «Das belebt das Geschäft auch für die anderen Hersteller.»


Die kleinen Gelaterias können also eine Glacekultur etablieren, die sich wiederum positiv auf den Verkauf von Raketen, Cornets und Co. auswirkt. Und sie kurbeln die Weiterentwicklung der Produkte an, so Krell: «Die Hersteller von artisanalen Glace können vielleicht eher auf individuelle Geschmäcker eingehen und Trends etwas schneller aufgreifen.»

Flammer erkennt im Boom das Bedürfnis, einen Gegentrend zur Globalisierung zu setzen. Die Menschen wünschen sich lokale Produkte. Ähnlich, wie dies auch in anderen Bereichen zu beobachten ist, etwa beim Bier.

Der lange Weg zur Gelato-Liebe

Die italienische Glacekultur ist also angekommen in der Schweiz. Doch weshalb hat sie uns so lange kalt gelassen? Immerhin hat die Schweiz schon vor Jahrzehnten eine grosse Einwanderungsbewegung aus Italien erlebt. Und Nachbarländer wie Deutschland kennen die sogenannte Eisdiele schon lange.

Die italienischen Arbeitskräfte konnten sich in der Schweiz nicht selbstständig machen.
Autor: Dominik Flammer Ernährungsforscher

Experte Dominik Flammer verweist auf eine historische Untersuchung der Universität Zürich zur italienischen Küche in der Schweiz. Der Hauptgrund ist demnach recht einfach, führt Flammer aus: «In Deutschland und anderen Ländern des europäischen Wirtschaftsraums durften sich die italienischen Arbeitskräfte selbstständig machen. Sie durften also auch eigene Eisdielen oder Restaurants eröffnen.»

In der Schweiz erhielten die Italienerinnen und Italiener nach dem zweiten Weltkrieg nur begrenzte Arbeitsbewilligungen. Restaurants oder Gelaterias konnten sie also nur dann betreiben, wenn sie mit einer Schweizerin oder mit einem Schweizer verheiratet waren.

Blick in eine historische Gelateria in Assisi
Legende: Italienische Glacekultur In Italien hat die Glacekultur eine lange Geschichte. Davon zeugen historische Gelaterias wie hier in Assisi. Keystone/Sunny Celeste

Glace-Produzent Florian Stähli hat noch weitere Erklärungen für die verspätete Liebe der Schweizerinnen und Schweizer zum Gelato: Die kurzen Sommer haben das Geschäft der Gelaterias eher unattraktiv gemacht. Und weiter: «Anders als gewisse nordische Länder kennen wir in der Schweiz eine sehr reiche Dessertkultur.» Diese ist laut Stähli auch massgeblich aus Frankreich mitgeprägt. So ist Glace in der Schweiz nur ein Dessert unter vielen.

Nahendes Ende des Booms

Im Jahr 2022 gehören Gelaterias zum gewohnten Bild auch in Schweizer Städten. Lange Warteschlangen inklusive. Der Boom hat seinen Höhepunkt nun aber bald erreicht, meint Ernährungsforscher Dominik Flammer: «Vielleicht entstehen in naher Zukunft noch neue Gelaterias. Andere werden jedoch eingehen.»

Der Schweizer Glacekonsum in Zahlen

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Die Schweizerinnen und Schweizer konsumieren im Vergleich mit der europäischen Nachbarschaft wenig Glace.

  • In der Schweiz wurden 2021 laut Schätzungen von Glacesuisse knapp 42 Millionen Liter Glacé verkauft. Ein Grossteil stammte von Schweizer Herstellern, ca. 30 Prozent von ausländischen Produzenten. Am meisten Glacé wurde zuhause gegessen: 27 Millionen Liter. Lutscher, Cornets und Stängelglace machten gut 8 Millionen Liter der gesamten Verkäufe aus.
  • Die Schweizer und Schweizerinnen essen um die 5 Liter Glace pro Kopf und pro Jahr. Der gesamte Glacekonsum in der Schweiz ist seit rund 10 Jahren in etwa konstant.
  • Liebste Glacearomen in der Schweiz sind seit Jahren unverändert Vanille, weit vor Erdbeer und Schokolade.
  • Glace ist in der Schweiz stark vom Wetter abhängig: An einem heissen Julitag wird bis zu dreimal mehr Glace gegessen als an einem regnerischen Tag.

Die Zahlen stammen von Glacesuisse, dem Verband Schweizerischer Glaceproduzenten. In ihm organisieren sich die grossen Hersteller. Das Geschäft der kleinen Gelaterias ist in den Zahlen somit nicht abgebildet.
Zum Umsatz in den kleinen Gelaterias gibt es keine Erhebung. In der Branche ist die Rede davon, dass sich ihr Anteil am gesamten Schweizer Glacekonsum im einstelligen Prozentbereich bewegt.

Diesen Ausblick teilt Gelato-Hersteller Florian Stähli. Er schätzt, dass der Konsum in naher Zukunft stagniert. Bleiben werde jedoch die grosse Vielfalt: «Im Vergleich mit früheren Jahren wird es mehr Anbieter geben, die lokale Produkte nutzen.» So erhalte die Konsumentin in Zukunft in unterschiedlichen Orten unterschiedliche Glaces – und nicht nur die Klassiker der industriellen Produzenten.

Radio SRF 1, Aktuell, Donnerstag 7. Juli ab 05:30Uhr ; 

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