Geschlechter gibt es in mehr Farben als Rosa und Blau. Nicht jedes Neugeborene lässt sich eindeutig als Junge oder Mädchen identifizieren.
Was, wenn das Kind intergeschlechtlich ist, also weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale aufweist? Es gebe über 40 Variationen von Intergeschlechtlichkeit, erklärt Urs Sager vom Verein für intergeschlechtliche Menschen InterAction.
Was, wenn das zugewiesene Geschlecht nicht mit der eigenen Identität übereinstimmt? Geschlecht und Geschlechtsidentität sind nicht dasselbe. So kann ein Kind nach der Geburt als Mädchen registriert werden, sich später aber als Mann identifizieren.
Wer bestimmt, was wir sind?
In der Schweiz wird spätestens 72 Stunden nach der Geburt das Geschlecht eines Neugeborenen registriert. Wer entscheidet, welches Geschlecht ein Kind hat? Nach welchen Kriterien?
Auch diese Frage scheint aufs erste simpel: Das sieht man doch! Urs Sager von InterAction sagt, dass nicht alle Variationen von Intergeschlechtlichkeit sichtbar seien – oder anders gesagt: Das Geschlecht ist nicht in jedem Fall ersichtlich.
Wer entscheidet also bei der Geburt eines Kindes aufgrund von welchen Kriterien über das Geschlecht?
Das machen bei einer Geburt Ärztinnen und Ärzte oder die Hebamme: «Sie haben offensichtlich eine Praxis, aber verbindliche Richtlinien existieren nicht», sagt Andrea Büchler, Präsidentin der nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin.
«Es ist interessant, dass es bei einer so zentralen Kategorie keine Richtlinien oder eine Instanz gibt, die das offiziell festlegt», sagt Büchler. «Meist legt eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Ärztinnen und Ärzten zusammen mit den Eltern das Geschlecht fest, wenn es uneindeutig ist.»
Urs Sager vom Verein InterAction ergänzt, dass sich die Praxis zur Bestimmung des Geschlechts von Spital zu Spital unterscheide.
Auch wenn das Geschlecht nicht klar benannt werden könne, gebe es in der Schweiz keine andere Möglichkeit, als 72 Stunden nach der Geburt ein «m» oder «f» im Geburtenregister einzutragen.
Operationen bei Neugeborenen ohne eindeutiges Geschlecht
Noch heute würden in der Schweiz Babys operiert, bei denen das Geschlecht nicht eindeutig sei, erklärt Urs Sager, dabei seien diese Kinder gesund: «99 Prozent der intersexuellen Kinder sind gesund. Geschlechtsverändernde Operationen haben aber massive Auswirkungen. Es braucht Nachfolgeoperationen und Hormonbehandlungen.»
Warum entscheiden wir nicht selbst über das Geschlecht?
Was wäre, wenn wir selbst über unser Geschlecht entscheiden würden, sobald wir das können und wollen? In der Schweiz ist es ab dem 1. Januar 2022 möglich, unkompliziert das eigene Geschlecht zu ändern - ohne gerichtliche Unterlagen oder psychologische Gutachten.
Allerdings kann nur zwischen «m» und «f» gewählt werden: Wer sich nicht binär verortet, kann weder leer eingeben, noch gibt es eine dritte Entscheidungsmöglichkeit, wie das etwa in Deutschland seit 2018 möglich ist.
Weg mit dem amtlichen Geschlecht?
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Binarität von Mann und Frau aufweicht: An den olympischen Spielen in Tokio ging mit Laurel Hubbard erstmals eine Transfrau an den Start, beim prestigeträchtigsten Musikpreis Grossbritanniens, den Brit Awards, werden 2022 genderneutrale Kategorien eingeführt und der Duden ist in Sachen gendergerechter Sprache über die Bücher.
Wo macht es also Sinn, das Geschlecht anzugeben und wo nicht?
Geht es nach der nationalen Ethikkommission, muss die Angabe des Geschlechts im Personenstandsregister überdacht werden. In ihrer Stellungnahme zum registerrechtlichen Geschlecht empfiehlt die Kommission eine dritte Eintragungsmöglichkeit, mittelfristig sei der gänzliche Verzicht auf die Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister vertieft zu prüfen.
Was würde es bedeuten, wenn das registerrechtliche Geschlecht abgeschafft würde? Die Hintergrundsendung Input geht in einem Gedankenexperiment diesen Fragen nach.