Miquela Sousa ist ein Instagram-Star. Unter dem Namen Lil Miquela hat die 19-jährige Amerikanerin mit brasilianischen Wurzeln über 1,2 Millionen Follower.
Ihre Bilder zeigen den Alltag einer typischen Influencerin: Lil Miquela posiert in Galerien und beim Essen. Sie lässt sich mit Musikern wie Nile Rodgers oder Diplo ablichten. Sie trägt Kleider von begehrten Labels wie Balenciaga und Vetements, setzt sich für die LGBTQ+ Community ein und unterstützt «Black Lives Matter». Auf Spotify hat sie unter dem Namen Miquela drei Songs veröffentlicht. Der erfolgreichste – «Not Mine» – wurde bis heute fast 1,5 Millionen Mal angehört.
Von ihrer Fangemeinde «Miquelites» wird Lil Miquela fast kultisch verehrt, obwohl die 19-Jährige so künstlich ist, wie man nur sein kann. Miquela Sousa ist eine digital geschaffene Persönlichkeit, die nur im Computer existiert.
Kurzer Theorie-Exkurs: Im 1981 erschienenen Buch «Simulacres et Simulation» prägte der französische Philosoph Jean Baudrillard den Begriff des «Hyperrealismus». Zusammengefasst glaubt Baudrillard, dass sich in der heutigen Gesellschaft Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden lassen. Wir lebten in einer Hyperrealität, geprägt von Zeichen, die auf nichts Reales mehr verweisen.
Das klingt schwer verständlich, kann am Beispiel von Lil Miquela aber leicht illustriert werden: Miquela Sousa gibt es nicht wirklich – hinter der fiktiven steht keine reale Person. Doch für ihre Fans macht das keinen Unterschied. Das Leben des fiktiven Models ist für sie genauso echt wie das von anderen Stars, die sie aus den Medien kennen.
Begreift man Lil Miquela als Teil der Hyperrealität, stellen sich einige interessante Fragen: Wie sehr unterscheidet sich die Computerfigur eigentlich von realen Social-Media-Stars? Ist eine Kylie Jenner für ihre 109 Millionen Instagram-Follower nicht auch nur eine Inszenierung, die mit der Realität nichts zu tun hat? Jenners Posen scheinen genauso künstlich wie die von Lil Miquela. Ihre Bilder sind genauso sorgfältig ausgesucht und nachbearbeitet.
So lässt sich Lil Miquelas Auftritt als Spiel mit der Inszenierung von Authentizität verstehen – einem Begriff, der seit dem Siegeszug der sozialen Medien immer unschärfer wird.
Bermuda hackt Lil Miquela
Lil Miquelas Macher nutzen die Figur mittlerweile für eine Art transmediales Geschichtenerzählen. Mitte April bemerkten Fans, dass alle Bilder auf Lil Miquelas Instagram-Account verschwunden waren, weil eine andere Kunstfigur namens Bermuda anscheinend das Konto gehackt hatte. Sowohl von der Erscheinung als auch von ihren Werten her war Bermuda das exakte Gegenteil: Schneeweisse haut, blonde Haare, stahlblaue Augen, Trump-Unterstützerin.
Was folgte, war eine Geschichte, die sich wie ein Cyberpunk-Roman liest. Bermuda und Lil Miquela sollen zwei virtuelle Wesen sein, die ein Bewusstsein erlangten. Geschaffen wurden sie vom selben Mann: Daniel Cain, dessen Firma Cain Intelligence in den Feldern des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz führend sei.
Doch Lil Miquela wurde von der Software-Firma Brud befreit und über ihre wahre Herkunft belogen. Der Clou dabei: Brud existiert tatsächlich. Das 13-köpfige Unternehmen steckt nicht nur hinter dem Auftritt von Lil Miquela, sondern hat auch Bermuda erschaffen. Daneben gibt es Ronnie Blawko, einen gesichtstätowierten Streatwear-Enthusiasten. Auch die noch kaum bekannten Figuren Avalon und Zamin scheinen von Brud erschaffen, wohl um den Markt für Designer-Sportswear respektive Cybergoths abzudecken.
Miquela modelt in Mailand
Für die Firma Brud scheint sich das Spiel mit diesen virtuellen Charakteren zu lohnen: Von Branchenkennern heisst es, in der letzten Finanzierungsrunde sollen 6 Millionen Dollar in die Kasse des Unternehmens geflossen sein. Zu den Investoren zählen grosse Risikokapital-Firmen aus dem Silicon Valley wie Sequoia Capital.
In den letzten Monaten war Lil Miquela auf den Covers von Kunst- und Fashion-Magazinen zu sehen. Sie stand Model für Marken wie Diesel, Moncler oder Supreme. Und während der Mailänder Modewoche postete sie unter dem Hashtag «Pradagifs» für das italienische Luxus-Label Prada.
Für Mode, Medien und Werbung scheint es also keinen Unterschied zu machen, ob sie mit echten oder virtuellen Influencern zusammenarbeiten. Am Computer generierte Influencer wie Lil Miquela haben sogar den Vorteil, dass sich ihr Auftritt genau kontrollieren lässt und keine Gefahr besteht, dass sie mit Negativschlagzeilen den Ruf eines Werbekunden beschädigen.
Drama ist wichtiger als Realität
Aber wie steht es mit dem Publikum? Ist ein virtueller Instagram-Star nicht nur deshalb interessant, weil er der bisher einzige seiner Art ist? Schliesslich blieben auch virtuelle Musiker wie die Gorillaz oder Miku Hatsune (siehe Kasten oben) eine Ausnahme und läuteten nicht eine Ära computergenerierter Popstars ein.
Entscheidend könnte sein, die Geschichten um Lil Miquela, Bermuda und ihre Gefährten interessant zu halten – so wie es Brud mit den Ereignissen rund um den Hack von Miquelas Instagram-Account bereits versucht hat. Auch hier lassen sich wieder Parallelen zu anderen Social-Media-Stars wie Kylie Jenner ziehen: Ihre Fans wollen an ihrem Leben teilhaben, Glücksmomente und kleine Dramen miterleben.
Ob diese Geschichten authentisch sind, scheint keine Rolle zu spielen. Auch bei einer Serie wie «Keeping Up with the Kardashians» glaubt kaum jemand, dass sie tatsächlich das echte Leben des Kardashian- und Jenner-Klans abbildet. Drama ist wichtiger als Authentizität.