Jörg Scheller, auf der aktuellen Ausgabe des Männermagazins «Men’s Health» sieht man einen Mann: Er ist schlank, hat brutal ausgebildete Bauchmuskeln, Adern, die an den Armen hervorstehen, eine glattrasierte Brust. Ist das für Sie das aktuelle männliche Schönheitsideal?
Ja, und es ist nicht nur das aktuelle männliche Schönheitsideal, es ist sehr viel älter. Dieser Typus von Körper kennen wir schon aus dem 19. Jahrhundert und aus der Antike. Wobei es da sehr feine und bedeutsame Unterschiede gibt.
Welche Unterschiede sind das?
In der Antike gab es die Idee, dass diese Körperform das Edle, das Gute und Wahre widerspiegelt. Heute steht das aktuelle Schönheitsideal hingegen für Optimierung, Funktionalität und Attraktivität. Hinzu kommt, dass das Körperideal in der Antike etwas gemässigter daherkam.
Warum sind die Muskeln des männlichen Körperideals heute grösser? Sinn macht es ja nicht wirklich, wir brauchen sie im Alltag oft viel weniger als früher.
Der eigene Körper verspricht heute eine letzte Domäne der Kontrolle. Wenn ich in der Fabrik arbeite und etwas beitrage zum Prozess des Autobauens, dann steht am Ende nicht meine Signatur auf dem Auto. Wenn ich aber im Gym meine eigene Muskulatur aufbaue, dann bin ich es allein, der diesen Bizeps hat quellen lassen. Und das schafft ein Gefühl der Befriedigung, das man anderweitig eigentlich nicht mehr findet.
Liege ich falsch, wenn ich sage: Das männliche Schönheitsideal hat sich seit der Antike nicht wirklich verändert – ganz im Gegensatz zum weiblichen Schönheitsideal?
Doch, das männliche Schönheitsideal hat sich immer wieder verändert. Es gab Zeiten, in denen der füllige Körper als begehrenswert galten. Aber bereits im 19. Jahrhundert wurden dicke Männer karikiert. Und damals gab auch einen Gegenentwurf: Eugen Sandow, ein preussischer Kraftathlet. Die Harvard University hat ihn vermessen und zum idealen Mann gekürt. Es wird von Frauen berichtet, die seinen Bizeps gefühlt haben und reihenweise in Ohnmacht gefallen sind, weil sie das von ihren leicht aufgeschwemmten Magnatengatten so nicht gewohnt waren.
Welche Rolle spielt Eugen Sandow für das aktuelle Schönheitsideal?
Er ist enorm wichtig. Eugen Sandow hat das Körperbild, das wir heute in «Men’s Health» finden, für eine breite Masse erstrebenswert gemacht hat. Einerseits zeigte er sich in einer skandalösen Nacktheit, mit freiem Oberkörper. Andererseits bediente er sich bei antiken Vorlagen. Er posierte als Herkules Farnese und signalisierte damit: «Hey, obwohl ich quasi nackt bin, bin ich auch ein Bildungsobjekt und verweise auf eine glorreiche Vergangenheit.» So gelangte das Ideal des trainierten, muskulösen und fettfreien männlichen Körpers in die frühen Massenmedien.
Medien, Influencer, die Modebranche: Wer definiert eigentlich heute das aktuelle männliche Schönheitsideal noch?
Es speist sich aus vielen Quellen: der Vergangenheit, dem Markt, der mit Klischees operiert, der Medizin, die sagt, bestimmte Körper seien gesünder, langlebiger und belastbarer. Und natürlich nicht zuletzt spielen auch Frauen eine Rolle, die durch ihr Verhalten mitbestimmen, welches Körperbild als erstrebenswert erachtet wird.
Hat das Schönheitsideal eigentlich auch irgendeinen Sinn? Oder ist es nur Folter?
Durchaus. Wir leben in einer Zeit, in der wir keine Fettreserven am Körper mehr brauchen. Und das Körperbild passt gut in unsere Konsumwelt, wo schön und attraktiv designte Oberflächen und Produkte dominieren. Und da rein fügt sich dieses Körperbild.
Dem Leben in der Schweiz auf der Spur – mit all seinen Widersprüchen und Fragen. Der Podcast «Input» liefert jede Woche eine Reportage zu den Themen, die Euch bewegen. Am Mittwoch um 15 Uhr als Podcast, sonntags ab 20 Uhr auf Radio SRF 3.
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.