«Dreimal Cordon Bleu, zweimal Tartar, zweimal Fischknusperli», schreit der Chef de Service in die Motel-Küche. Und man fühlt sich sofort zurückversetzt in die kulinarische Welt der eigenen Kindheit. Wo auf den Tellern noch häufiger überbackene Ofentomaten lagen – statt Bulgursalat mit Federkohl.
Mit der SRF-Serie «Motel» lässt sich wunderbar eintauchen in die Schweiz der 80er-Jahre. Man kann schwelgen in einer Zeit, wo Telefone noch Wählscheiben hatten. Computer nur in Form von Pacman-Automaten in Spielhöhlen zugänglich waren. Und man seiner Angebeteten noch persönlich sagen musste, dass man sie zum Date ausführen möchte.
Einblick in 80er-Alltag
Das Alltagsleben der 80er-Jahre zeigt die Serie mit beinahe dokumentarischer Präzision. Die Serie ist zwar reine Fiktion. Den dokumentarischen Touch verdankt sie der aussergewöhnlichen Produktionsweise. Gedreht wurden die Folgen wochenaktuell. Jeweils Anfang Woche wurde gefilmt, in der zweiten Wochenhälfte geschnitten und sonntags waren die frischen Folgen dann im Fernsehen zu sehen.
Motelküche als Schmelztigel
Extrem clever gewählt ist der Schauplatz der Serie. Das Motel irgendwo im Siedlungsbrei des Mittellandes ist die perfekte Kulisse, um Schweizer Durchschnittlichkeit zu zeigen. Die aber spätestens in der Küche des Motels mit anderen Kulturen kollidiert.
Dort machen Türken den Abwasch und Sri Lanker brutzeln die Cordon Bleus. Der Umgangston in der Motelküche ist rau. Und das heutige Fernsehpublikum staunt, wie offen rassistisch man in den 80er-Jahren in der Schweiz noch war.
Gesellschaftskritik gilt heute noch
Wer «Motel» heute schaut, merkt aber auch, dass viele der damals thematisierten Probleme weiter bestehen. Zum Beispiel erledigen in Gastrobetrieben ja nach wie vor Menschen mit ausländischen Wurzeln die schlecht bezahlten Jobs. Die guten Stellen hingegen bekommen meist Schweizerinnen und Schweizer.
Der schwule Kuss
Wie offen die Serie Rassismus thematisiert, war für die 80er-Jahre in der Schweiz bahnbrechend. Noch viel fortschrittlicher aber war, wie selbstverständlich die Serie ein schwules Paar zeigt. Man sieht, wie sich zwei Männer küssen und Zärtlichkeiten austauschen.
Der Kontext dazu: 1984 rollte die Aidsepidemie gerade so richtig los. Viele Leute glaubten, die Krankheit sei eine Strafe Gottes für die Schwulen. Und da zeigt SRF in einer Serie ein schwules Paar im Vorabendprogramm. Man kann sich vorstellen, was für ein Erdbeben das für die Schweiz bedeutete.
Der Busenblitzer-Skandal
Der zweite grosse Skandal war, dass die Serie Hauptdarsteller Jörg Schneider und seine Filmpartnerin Silvia Jost in einer Bettszene nach dem Sex zeigt. Josts nackte Brüste sind dabei kurz zu sehen. Da konnte sich die Boulevardpresse natürlich wunderbar darüber empören, dass Schneider, der «Kasperli der Nation», ein Sexualleben hat.
Die wöchentliche Skandalschlagzeile
Selten in der Geschichte des Schweizer Fernsehens hat eine Serie so viel Medienecho ausgelöst. Der Blick führte eine regelrechte Kampagne gegen «Motel». Auf jede Folge am Sonntag folgte am Montag eine grosse Schlagzeile auf der Blick-Frontseite.
Den Zuschauern zu langweilig
Abgesehen von den beiden grossen Skandalen wurde der Serie hauptsächlich vorgeworfen, sie sei zu langweilig. Die Presse war der Meinung, das Schweizer TV-Publikum habe keine Lust, am Sonntagabend eine halbe Stunde Alltagsleben im Fernsehen zu schauen. Das hätten die Leute ja schon die ganze Woche selbst erlebt.
Für Nostalgiker mit gesellschaftskritischem Touch
Nachträglich stellt sich aber gerade die Alltagsnähe der Serie als enormer Glücksfall heraus. In keiner anderen Produktion sieht man das Schweizer Leben der 80er-Jahre so präzise und liebevoll dargestellt. «Motel» ist eine wahre Perle für all jene, die gerne in vergangene Zeiten eintauchen. Oder die gerne darüber nachdenken, wie sich die Welt in den letzten Jahrzehnten verändert hat.