Als die Indierocker Kettcar Ende Januar ihre erste Single «München» über Alltagsrassismus in Deutschland veröffentlichten, wurden die «Remigrationspläne» der AfD enthüllt und Deutschland ging zu Hunderttausenden auf die Strasse.
Das Lied wurde zum Soundtrack zu den landesweiten Demonstrationen gegen den aufkeimenden Rassismus, die seither nicht abflauen. Nun ist das neue Kettcar-Album «Gute Laune ungerecht verteilt» da und auch darauf beweisen die Hamburger ein gutes Händchen für die richtigen Songs zur richtigen Zeit. Sänger Marcus Wiebusch im Interview über aufwühlende Lieder in überfordernden Zeiten und seine eigenen Zweifel an der Wirksamkeit von Kunst und Kultur.
SRF: Bei unserem letzten Interview 2018 hast du mir gesagt, die Zeiten der gemütlichen Lieder sei für euch vorbei. Wie sind die Zeiten für Lieder denn jetzt?
Marcus Wiebusch: Wir stolpern von Krise zu Krise und die Leute sind erschöpft. Corona, die Kriege in der Ukraine und in Gaza, AfD, Klimakrise. 2017 hatten wir Klima- und Flüchtlingskrise, aber nicht all die Krisen, die sich überlagern. Es sind Zeiten, die einen zweifeln lassen.
Euer neuer Song «München» über Alltagsrassismus kam exakt zur Zeit, als die AfD ihre «Remigrationspläne» enthüllte. Perfektes Timing?
Die Migranten in Deutschland hatten es schon in den 80ern nicht einfach. Der Song über diese ungleiche Freundschaft entstand vor 1.5 Jahren. Unser Bassist hat den Text geschrieben. Es geht um Alltagsdiskriminierungen, aber er war eigentlich nicht als Kommentar zum aktuellen Geschehen gedacht. Dass er jetzt zum Zeitpunkt erscheint, wo Deutschland zu Hunderttausenden gegen Faschismus auf die Strasse geht, ist Zufall.
Sehr aktuell ist auch der Song «Kanye in Bayreut». Es geht hier um Cancel Culture. Kann man Kanye West canceln und gleichzeitig zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth pilgern?
Künstler sind nicht bessere Menschen als Maler, Rechtsanwälte oder Klempner. Sie handeln moralisch manchmal genauso fragwürdig wie alle anderen. Doch sie können Werke schaffen, die mit ihrer moralischen Verkommenheit überhaupt nichts zu tun haben. Das Urbeispiel war der glühende Antisemit Richard Wagner. Es fällt mir oft schwer, das Werk vom Künstler zu trennen, es gibt Songs von Michael Jackson, die ich mir nicht mehr anhöre, aber ich würde mir eher den Arm abhacken, als dich aufzufordern, du dürftest auch keine Lieder von Michael Jackson mehr hören.
Künstler sind nicht bessere Menschen als Maler, Rechtsanwälte oder Klempner.
Auch die alten Rockstars haben Leichen im Keller. Mick Jagger und David Bowie hatten Sex mit Minderjährigen. John Lennon hat seine erste Frau Cynthia geschlagen und schrieb darüber den Song «Getting Better». Heute würde es niemandem in den Sinn kommen, die Beatles zu canceln. Wo zieht man die Grenze?
Genau diese Beispiele bringe ich auch immer. Guck in deinen Plattenschrank. Welcher Künstler war so verkommen, dass das ganze Werk wegmuss? Ich glaube nicht, dass Moral hier objektiv ist. Als der Dokumentarfilm über Michael Jackson zum Thema Kindesmissbrauch erschien, wurden in Deutschland Petitionen eingereicht, dass Jackson komplett aus dem Radio verbannt werden soll. Das ist Mobbildung. Ich bin dagegen.
Im Song «Doug & Florence» geht es um die ungleiche Verteilung von Wohlstand. In der zentralen Textzeile singst du «Paketzusteller und Krankenschwestern vereinigt euch». Weshalb war der Applaus auf den Balkonen während Corona so kurz?
Der Song ist erst mal eine Abrechnung mit dieser neoliberalen Zumutungspolitik, die darauf fusst, dass es jeder schaffen kann. Man muss sich nur genug anstrengen. Das ist natürlich Quatsch und wenn die Schwächeren mit ihrer Arbeit nicht mal mehr die Miete bezahlen können, läuft etwas falsch. Dass sich diese Leute im Lied ihren Teil halt einfach nehmen, ist natürlich überspitzt, aber im Grunde richtig.
Im Lied «Auch für mich 6. Stunde» besingst du die Zumutungen und Überforderungen die uns der Alltag manchmal bereithält. «Mittelmeer, Massengrab, Sandstrand, Junge Tot, Netflix, Abendbrot.» Stumpfen uns die vielen Krisen ab?
Definitiv. «Twitter, konzentrier dich mal» singe ich auch. Social Media überfordert uns massiv. Die 6. Stunde ist die letzte Schulstunde des Tages, dann wenn alle erschöpft sind, auch die Lehrer und Lehrerinnen. Das ist aktuell der allgemeine Zustand in der Bevölkerung.
Ich singe meist zu Leuten, die sowieso meiner Meinung sind.
Kaum eine Band zeigt so viel Haltung wie Kettcar. Ihr hinterfragt euch aber auch ständig wieder. Du singst «Unser politischstes Album seit … oh bitte …». Wann zweifelst du selbst daran, ob das alles überhaupt etwas bringt?
Ständig. Meine Position als Musiker ist manchmal auch etwas lächerlich. Ich versuche mich zwar einzusetzen, aber wen und was erreiche ich denn? Ich singe meist zu Leuten, die sowieso meiner Meinung sind.
In Amerika steht nicht nur die Musik, sondern die gesamte Kulturwelt gegen Trump auf. Und trotzdem hat man das Gefühl, es ändert nicht viel. Hat die Musik ihre Wirkungsmacht verloren?
Ich denke das manchmal auch. Und immer dann kommt jemand wie kürzlich dieser Lehrer, der desillusioniert war über seine von TikTok und AfD verseuchten Neuntklässler, die Robert Habeck umbringen wollen. Und dann hörte er «München» und fühlte sich ein bisschen weniger hoffnungslos. Es ist vielleicht wenig, aber es ist nicht nichts.
Das Gespräch führte Dominic Dillier.