Landolt: Was fehlt einer Gesellschaft ohne Pop-Konzerte?
Sigrist: Ganz sicher das kollektive Erlebnis. Ich sehe die seelische Not der unbefriedigten Bedürfnisse zurzeit jedoch näher an der Bar als vor der Bühne. Sich unbeschwert mit Leuten treffen und austauschen können, ist essenziell. Konzerte sind Inseln. Für die einen Ferien vom Alltag, für andere Inspirationsquellen und Tankstellen für die Seele. Wir hatten in der Schweiz eine üppig gestaltete Konzertlandschaft, die wir als selbstverständlich empfanden. Wie Luft, die wir zum Atmen brauchen. Wie wichtig sie ist, merken wir erst, wenn sie nicht mehr da ist. An diesem Punkt stehen wir nun.
Sigrist: Wird sich deiner Meinung nach die Wertschätzung von Pop-Konzerten durch die Corona-Krise nachhaltig verändern?
Landolt: Kurzfristig wird die Wertschätzung wohl explodieren. Wenn man dann wieder darf, dann wird man auch wollen – und die Sozialen Medien werden randvoll sein mit Fotos von Konzertbesuchern im Exzess. Vielleicht bleibt es aber auch bei einer übermässig gesteigerten Vorfreude: Bis man nebst Ticket noch einen aktuellen Gesundheitstest und den Contact-Tracing-Rapport vorweisen muss, um ins Konzertlokal zu kommen. Um bei deinem Bild der Konzerte als Inseln zu bleiben: Die langfristige Wertschätzung hängt auch stark davon ab, zu welchem Preis man diese Inseln anfliegen kann und welche Inseln es überhaupt noch geben wird. Ich persönlich hoffe, dass ich bald wieder magische Konzerte erleben darf.
Landolt: Wie denkst du, wird sich das Verhalten des Publikums an Pop-Konzerten verändern?
Sigrist: Abgesehen davon, dass sich am Anfang wohl kaum jemand in die erste Reihe stellen will, um sich von den SängerInnen anspucken zu lassen, wird bei schlecht besuchten Konzerten der Spruch «Chömet echli nöcher» natürlich obsolet. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man sich während laufenden Konzerten weniger ins Gesicht schreit (und spuckt) – sprich: dass man den Smalltalk eher auf später verschiebt. Dies könnte dazu führen, dass Konzerte in der Anfangsphase mehr Aufmerksamkeit kriegen. Längerfristig glaube ich aber nicht, dass sich das Verhalten grundsätzlich ändern wird. Sobald das Konzertangebot steigt, sinkt die Exklusivität von Live-Konzerten. Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Umgang mit Covid-19 ein entspannterer sein wird, wenn die Konzertlokale wieder öffnen.
Sigrist: Hoffst du, dass die Schweizer Konzertlandschaft wieder genauso wird, wie sie war?
Ich wünsche mir, dass unsere Konzertlandschaft mindestens wieder dieselbe Diversität an Genres abdecken wird. Ich hoffe, dass auch die kleinen bis mittelgrossen Clubs genug Schnauf und Reserven haben, um die Krise zu überstehen. Die Situation in der wir stecken, setzt Kreativität frei und bricht im besten Fall mit Routinen. Sei dies in Form von radikalen und experimentierfreudigen Konzepten in der Bespielung virtueller Auftrittsräume oder in der Fokussierung auf das Wesentliche an Live-Konzerten. Auf dass in unserer Konzertlandschaft vermehrt und bewusster in die Musik investiert wird als in den Sankt Galler Bacardi-Dome oder die Gampelsche «Tütschibahn». Das Openair St. Gallen war da schon auf dem besten Weg dazu mehr auf Musik statt Party zu setzen, wenn dann die blöde Krise nicht gekommen wäre.
Und ihr so? Wie schätzt ihr die Zukunft der Schweizer Konzertlandschaft ein?