SRF 3: Vor einem Jahr wurde der Polizist, der den Afroamerikaner George Floyd umgebracht hat, für schuldig befunden. Wie präsent ist der Fall George Floyd noch in der amerikanischen Bevölkerung?
Matthias Kündig: Seit der Verurteilung von Derek Chauvin ist der Fall George Floyd zwar aus den Schlagzeilen verschwunden, aber George Floyd gilt immer noch als Symbol. Es gibt für viele in den USA ein vor und ein nach George Floyd. Viele Weisse waren sich davor nicht bewusst, dass Schwarze Männer ein viel höheres Risiko haben, bei einer Polizeikontrolle erschossen zu werden, als Weisse.
Die «Black Lives Matter»-Bewegung hatte nach George Floyds Tod einen grossen Aufschwung. Wie sieht es heute aus?
«Black Lives Matter» ist heute, die Nummer eins Bürgerrechtsorganisation in den USA, wenn es um Polizeigewalt gegen Schwarze geht. Sie ist in der Öffentlichkeit vor allem dann präsent, wenn es wieder einen neuen Fall von Polizeigewalt gibt. Dann kommt es lokal noch immer zu grösseren Demonstrationen.
Im Moment sorgt die «Black Lives Matter»-Bewegung jedoch für negative Schlagzeilen. Die Organisationsspitze, darunter Mitgründerin der «Black Lives Matter Global Network Foundation» Patrisse Cullors, hat mehrere Millionen Dollar in Immobilien investiert - unter anderem als Büroräume für die Organisation. Es steht der Vorwurf im Raum, dass diese mit Spendengeldern finanziert worden seien, was die Organisation dementiert.
Im Gegensatz zu «Black Lives Matter» gibt es auch Bewegungen von Weissen, die sich als Opfer sehen. Weshalb?
Es gibt in den USA einen Teil der Bevölkerung, vor allem im rechten politischen Lager, die nicht sehen wollen, wie die weisse Bevölkerungsmehrheit mit der schwarzen Bevölkerung umgegangen ist und noch immer umgeht. Sie sind überzeugt, dass es heute keine Diskriminierung mehr gibt und, dass sie «farbenblind» sind. Darum gab es auf die Proteste nach George Floyds Tod Gegenbewegungen, wie «All Lives Matter» oder «Thin Blue Line», die heute noch präsent ist. Dazu gehören vor allem Republikaner, die die Polizei in Schutz nehmen.
Welche Auswirkungen hatte das Urteil im George Floyd-Fall auf die Polizeigewalt in den USA?
Wenn man die Statistiken anschaut, sieht man: Nichts hat sich geändert. Letztes Jahr sind in den USA 1054 Menschen von der Polizei getötet worden – mehr als im Jahr davor und so viele wie noch nie. Dieses Jahr geht es im gleichen Stil weiter. Die Hälfte der Opfer sind schwarze Männer, obwohl ihr Bevölkerungsanteil bei gerade einmal 13 Prozent liegt.
Was ist aus den politischen Bemühungen in den USA geworden?
Im US-Kongress gab es eine Zeit lang Bemühungen, per Gesetz nationale Standards für Polizeiarbeit einzuführen und gewisse Praktiken zu verbieten, aber es ist am Widerstand der Republikaner gescheitert. Ein wenig anders sieht es lokal aus. Es gab die eine oder andere Reform. In verschiedenen Polizeikorps wurde beispielsweise die Ausbildung verstärkt. Es gibt auch Städte, wo sogenannte «no-knock warrants» verboten worden sind. Das sind Hausdurchsuchungen ohne Voranmeldungen, bei denen immer wieder Unschuldige sterben.
Was ist die grösste politische Baustelle bezüglich Polizeigewalt?
Umstritten ist die sogenannte «qualified immunity». Damit gemeint ist der weitgehende Rechtsschutz, den Polizistinnen und Polizisten geniessen. Beispielsweise Polizeigewerkschaften sind der Meinung, dass dieser nötig sei, weil die Beamten sonst ihre Arbeit nicht richtig machen könnten, wenn sie bei jedem Handgriff Angst haben müssten, direkt eine Klage am Hals zu haben. Die Demokraten wollen die «qualified immunity» einschränken, für die Republikaner kommt das jedoch nicht in Frage.