Die Schweiz und ihre «Corona-Gräben»
Grenzschliessungen, Maskenpflicht, Ausgangssperren: Die Romandie und das Tessin verlangten zu Beginn der Corona-Pandemie rasch strikte Massnahmen. In der Deutschschweiz stiess der Wunsch nach einem harten Lockdown zunächst auf taube Ohren. Warum wurde die Krise so unterschiedlich eingeschätzt? Und wie hat man schliesslich doch einen Modus gefunden, der für alle Landesteile akzeptabel war?
Darüber spricht Marc Lehmann mit Barbara Colpi, SRF-Westschweiz-Korrespondentin mit Sitz in Lausanne; Karoline Thürkauf, Radio-Korrespondentin für das Tessin mit Sitz in Lugano; und Christoph Brunner, der seit vier Jahren für Radio SRF aus und über Zürich berichtet.
Die Schweiz und ihre Obrigkeit: Staatsskeptiker und lebensfrohe Etatisten
Die Nähe zu den Corona-Hotspots Frankreich und Italien sowie die Tatsache, dass die lateinische Schweiz früher und heftiger vom Virus heimgesucht wurde, führten zu einer unterschiedlichen Beurteilung der zu treffenden Massnahmen. Doch ist diese Erklärung ausreichend? Oder müssen wir nach anderen Gründen suchen, etwa nach der Haltung dem Staat gegenüber? Das Vertrauen und die Erwartungen an die Autoritäten sind nach landläufiger Meinung in der lateinischen Schweiz ausgeprägter als in der deutschen. Aber stimmt das auch: Romands und Tessiner als lebensfrohe Etatisten, Selbstverantwortung bei den Deutschschweizern? Und wie äussert sich das in der politischen Debatte und im gesellschaftlichen Zusammenleben?
Die Schweiz und ihre Mehrsprachigkeit: Schön wär’s!
Die Schweizer Sprachgrenzen sind im Frühmittelalter entstanden, als Produkt komplexer Migrations- und Assimilationsbewegungen. Heute ist die mehrsprachige Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Die Eidgenossen, ein Volk von Sprachtalenten? Im Alltag ist es mit der Mehrsprachigkeit leider nicht so weit her. Wir leben mehr neben - als miteinander in unserem jeweiligen Sprachraum. Spielen also die Sprachen für den nationalen Zusammenhalt möglicherweise gar keine entscheidende Rolle?
Jedenfalls ticken die Sprachregionen nicht gleichförmig. Die Interessen und Schwerpunkte sind unterschiedlich gelagert und das Wissen von- und übereinander beschränkt sich oft auf Klischeevorstellungen.
Die Schweiz und ihr Geld: Geiz ist geil oder Savoir-vivre?
Die Deutschschweizer als verbissene Karrieristen, die Welschen als die «Griechen der Schweiz», die Tessinerinnen irgendwo dazwischen: Wenn es um die Einstellung gegenüber Geld und Arbeit geht, ticken die Menschen in den verschiedenen Landesteilen anders – so zumindest in unseren Vorstellungen. Und tatsächlich sind Westschweizer häufiger und länger arbeitslos, sparen weniger und verschulden sich öfter als die Menschen in der Deutschschweiz. Im Tessin wiederum sind die Löhne am niedrigsten, obwohl das Wirtschaftswachstum höher ist als diesseits des Gotthards. Lässt sich eruieren, ob die wirtschaftliche Entwicklung von der Kultur abhängt?
Die Schweiz und ihr Zusammenhalt: Wie eine Patchwork-Familie
Dass die Menschen in den verschiedenen Landesteilen unterschiedlich denken und handeln, ist eine Binsenwahrheit. Oft genug ignorieren sich die Sprachregionen mit auffälligem Desinteresse. Und trotzdem gleichen sie sich mehr als sie gemeinhin wahrhaben wollen. Die direkte Demokratie, der Föderalismus, die Institutionen halten unsere Willensnation zusammen. Dass wir oft aneinander vorbeileben, kann der Stabilität des Landes nichts anhaben. Unterschiede in vielen Alltagsbereichen wie Wohnen, Freizeit und Verkehr existieren zwar, doch scheinen diese für das Zusammenleben im selben Staat nicht von grosser Bedeutung zu sein.
Zum Abschluss unserer Gespräche über die Schweiz fragen wir nach dem Zusammenhalt: Was macht es aus, dass wir trotz aller Differenzen und Divergenzen eine weitgehend integrierte Nation sind?