Die Hauptfiguren der sogenannten Elsagate-Videos kennen wir: Da wäre als erstes Prinzessin Elsa aus dem Disneyfilm «Frozen», die dem Phänomen ihren Namen leiht. Aber auch Spiderman, Hulk und der Joker sind dabei. Genauso wie ihre gezeichneten Freunde von der Paw Patrol, Mickey Mouse oder die Minions. Aktuell findet sich wohl von jeder beliebten Zeichentrickfigur ein fragwürdiges Video.
Die aus Kinder-Cartoons vertrauten Charaktere machen darin Dinge, die sogar Erwachsene schaudern lassen: Verstümmelung, Doktorspiele, Fäkalien, Entführungen und sogar Kannibalismus sind in den Videos zu sehen.
Das gilt für YouTube genauso wie für die in vielen Ländern ─ allerdings nicht in der Schweiz ─ etablierten App YouTube Kids, wo Eltern ihre Sprösslinge scheinbar bedenkenlos auf der Videoplattform surfen lassen können. Die Idee dahinter: Ein Filter sortiert alles heraus, was nicht für Kinderaugen gedacht ist. Doch dem ist nicht so.
Viele der Videos sind billig animiert, manche aber auch aufwendig mit Knetfiguren und Stopmotion-Technik aufgenommen. Wieder andere haben sogar echte Menschen als Protagonisten. Besonders die Filme mit echten Schauspielern werfen besonders viele Fragezeichen auf, denn neben Erwachsenen spielen darin oft auch Kinder mit.
Wer sieht sich diese Videos an?
Natürlich findet man alles im Internet, wenn man nur lange genug danach sucht. Doch wir sprechen hier nicht von der Nadel im Heuhaufen, auch wenn Malik Ducard, der bei YouTube für familienfreundliche Inhalte zuständig ist, das so nennt. Wir sprechen von einem Phänomen, das gigantische Züge angenommen hat. Es gibt Hunderte von Kanälen mit Millionen von Abonnenten. Die Videos wurden mittlerweile milliardenfach geklickt.
Hinter diesen gigantischen Zahlen verstecken sich wahrscheinlich auch sogenannte Bots. Also Computerprogramme, die automatisch Videos anschauen. Dadurch erscheinen die Videos weiter oben in den YouTube-Suchergebnissen.
Wie kommen Kinder mit den Videos in Kontakt?
Letztlich werden die Videos jedoch eindeutig mit dem Ziel produziert, über die Tablets und Smartphones der ganz Kleinen zu flimmern. Dafür bedienen sich die Macher eines Tricks, wie die Titel der Videos zeigen. Auf den ersten Blick ergeben sie wenig Sinn und hören sich so an: «BURIED ALIVE Outdoor Playground Finger Family Song Nursery Rhymes Animation Education Learning Video». Der Clou: Dieser Wortsalat besteht aus einigen der beliebtesten Stichworte, nach denen Eltern oder Kindern bei Youtube suchen.
Neben der Namen der Disney-Figuren selbst sind es vor allem Gute-Nacht-Lieder, Animationen und Lernvideos, welche besonders häufig im Suchfeld eingegeben werden. Das perfide daran: Selbst wenn die Eltern erst ein völlig jugendfreies Video für ihre Kinder gefunden haben, ist es gut möglich, dass ihr Kind später mit verstörenden Inhalten konfrontiert wird.
Denn YouTube hat eine sogenannte Autoplay-Funktion. Das heisst, wenn ein Video fertig ist, sucht der Algorithmus nach einem ähnlichen und spielt dieses automatisch ab. Wenn zum Beispiel ein Vater seinem Kind ein Video mit Elsa zeigen will, geht er dafür auf den Disney-Kanal und wählt eines aus. Sobald jedoch das offizielle Elsa-Video fertig ist, rutschen ähnliche nach. Die Videos mit grenzwertigen Inhalten sind genau darauf ausgelegt, im Autoplay-Modus nachzurutschen. Sie tricksen den YouTube-Algorithmus aus.
Wer steckt dahinter?
Die Videos sind also optimal auf den Youtube-Algorithmus abgestimmt und haben teilweise solch absurden Inhalt, dass sich die Frage stellt, ob überhaupt Menschen dafür verantwortlich sind. In Internetforen wird darüber spekuliert, ob einige diese Videos vollautomatisch von einem Computerprogramm animiert werden.
Livio Lunin winkt ab: «Vollautomatisch wird man solche Videos auch in 40 Jahren nicht herstellen können, doch viel Aufwand steckt tatsächlich nicht dahinter.» Lunin ist Game Designer und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zürcher Hochschule der Künste. Er meint, dass für diese Videos sehr wahrscheinlich sogenannte Game Engines zum Einsatz kommen. Das sind Programme, mit denen sonst Computerspiele programmiert werden.
Für Game-Engines gibt es Bibliotheken voller fertig produzierter Figuren, Landschaften, Musik und Geräusche. Diese müssten nur noch zusammengewürfelt werden und so könne man mit relativ kleinem Aufwand Animations-Videos produzieren. «Für den ersten 10-Minuten-Film braucht man vielleicht vier Tage» schätzt Lunin. Danach sei die grösste Arbeit getan und weitere Videos liessen sich in einem halben Tag erstellen.
Weil die Videos bis zu mehreren Millionen Male angeklickt werden, können die Macher so mit wenig Aufwand viel Geld verdienen. Wenn sie vor ihren Videos Werbung zulassen, bezahlt ihnen YouTube für eine Million Klicks zwischen 1'000 und 2'000 Franken. Das berichten YouTuber.
Wer trägt die Verantwortung?
Wer kassiert dieses Geld? Wie viel bekommen diese Channels tatsächlich? Und wer erstellt diese Videos, die wahrscheinlich mittlerweile für unzählige Alpträume gesorgt haben? Diese Fragen haben wir an die Macher dieser Channels gestellt, doch keinerlei Rückmeldung erhalten.
Daneben stellt sich auch die Frage, warum der Medienkonzern Disney nichts gegen die Zweckentfremdung seiner Figuren unternimmt? Disney hat schon amerikanischen Kinderkrippen mit rechtlichen Schritten gedroht, weil diese ihre Wände mit Mickey-Mouse-Figuren verzierten.
«Wir haben unsere grosse Besorgnis gegenüber YouTube zum Ausdruck gebracht», sagt Uli Müller in einer schriftlichen Stellungnahme. Er ist Medienverantwortlicher von Disney Deutschland. Die Videoplattform habe versichert, die anstössigen Inhalte zu entfernen. Gleichzeitig arbeite sie an effektiveren Möglichkeiten, solche Vorfälle bereits im Vorfeld zu verhindern.
Doch auch YouTube weist die Verantwortung grösstenteils von sich. Auf Anfrage von SRF macht der Mutterkonzern Google darauf aufmerksam, dass YouTube lediglich eine Videoplattform und keine Inhaltsproduzentin ist und verweist auf die Community-Richtlinien, die für Inhaltsproduzenten gelten.
Auf massiven Druck von aussen hat Google nun dennoch versprochen, die eigenen Richtlinien besonders bei Videos für Kinder stärker durchzusetzen. Viele dieser Videos sind mittlerweile nur noch ab 18 Jahren freigegeben und können somit keine Werbeeinahmen mehr generieren. Ausserdem hat Youtube letzte Woche 50 Kanäle gelöscht und somit Tausende dieser Videos vom Internet genommen.
Trotz dieser Massnahmen und obwohl das Phänomen mittlerweile auch medial hohe Wellen schlägt, finden wir mit einer einfachen Suche nach wie vor genug dieser Videos, die auch mit Werbung Einnahmen generieren dürften.
So sind die Eltern gefordert sich genauer über den Medienkonsum ihrer kleinen Kinder zu informieren. Vonseiten der Schweizer Behörden heisst es, man solle Kinder nicht unbeaufsichtigt im Internet surfen lassen. Im Ratgeber für Eltern der Plattform Jugend und Medien ist das so formuliert: «Medien sind keine Babysitter, es braucht die ständige Begleitung durch Erwachsene.»