DAMN, was für ein Auftakt
Auf dem Intro «Sanspapier» eröffnet Nativ sein Album «Baobab» mit dieser Zeile:
Mängisch wach I uf ir Nacht mitre schwitzige Stirn, ha troimt i sige Hueresohn
DAMN, was für ein Auftakt. Ich riss mir beim Durchhören des Albums in diesem Moment die Kopfhörer vom Schädel und staunte einen Moment lang. Egal, was da nachher kommt, der Satz ist eine Schelle. Die ersten Worte auf einem Album, der erste Augenkontakt bei einem Date, der erste Biss vom Essen – das sind Momente, die entscheiden, wie man zum Rest des Konsumerlebnisses stehen wird.
Wenn mir da so ein Satz auf die Ohren prallt, der so bildhaft, eigen und zugleich todernst und humorvoll ist, dann schreibe ich eben mal den ersten Abschnitt eines Reviews, bevor ich weiterhöre. Und zwar weil Anfänge wichtig sind, und heiliger Biggie im Himmel, war das ein Anfang. In der ersten Strophe von «Sanspapier» lauern dann noch einige zitierwürdige Zeilen. Hängen bleibt vor allem:
Us dr Vagina vo mire Mär sägi we si frage vo wo dassi chum
Bemerkenswert ist aber das Gesamtsujet des Songs. Nativ beschreibt den Kampf mit seinem eigenen Ego(ismus), moniert das allgemeine Überhypen der eigenen Wichtigkeit und ruft dazu auf, ein wenig Bescheidenheit zu zeigen:
I bi so wichtig. Du bisch so wichtig. Mir aui si wichtig. Auso tue ned so wichtig
Gleichzeitig zeichnet er aber schonungslos, wie abhängig er von seiner eigenen Wichtigkeit ist. Der innere Konflikt des Protagonisten auf «Baobab» ist ab dem ersten Kapitel spürbar, man fühlt mit und wird angesprochen, die Bühne ist belichtet: Man ist einbezogen und abgeholt.
Rassismus, Frauen und Selbstbild
Das passiert die nächsten vier Songs am Stück: Nativ springt stilistisch von dreckigem Trap über Gospel zu Soul. Themathisch beschäftigt er sich bis Track 5 («Jigeen») mit dem Struggle mit seinem Selbstbild und Rassismus, Frauen, die nicht ernst genommen werden, weil sie Frauen sind und mit seinen Schuldgefühlen.
Auf all diesen fünf Tracks wirken die ersten Worte oder Summgeräusche («Interlude») von Nativ wie die «Hurensohn»-Line vom ersten Song : Man wird geohrfeigt, angetanzt, es wird einem von der Kanzel gepredigt und es summt einem ins Ohr. Man wird persönlich an der Türe zu jedem Song abgeholt. Musikalisch und textlich, jedes mal neu und eigen.
10/10
Dieses Muster zieht sich durch das gesamte Album. Die Haltung von Nativ schwankt bei jedem Thema zwischen gesellschaftsveränderndem Prediger und gesellschaftsgestörtem Konsumenten. Bei einem solchen Themen-Range (Feminismus, Selbstliebe, Mütter, Sucht, Europakritik, Rassismus, Macht und Identitätskrise) tut das gut, weil man einerseits den idealistischen Brandredner hat, und auf der anderen den Kollegen, der mit Sünden-tropfenden Händen neben einem steht.
Stimmlich und musikalisch erfindet sich Nativ auf praktisch jedem Track auf «Baobab» neu. Von einer noch nie gehörten, nasal/undeutlichen, hohen Grenz-Mumble-Stimme («Noir») über Gospel-Rap im Gusto von Chance the Rapper auf Kanye West-Beats («Gaou») bis hin zu vollhalsigen Soulpassagen, Elektropop-Chants («Interlude 2»). Zudem ist zirka ein Drittel des Albums gesungen – die Vielfalt ist riesig.
Zusammengehalten wird das Ganze von Nativs Präsenz und Absicht, die stets dringlich ist und den nachfühlbaren, ehrlichen Texten. Ich wüsste nicht, was ich da auszusetzen hätte.
10/10
«Bounce», die Rap-Show von Radio SRF Virus: Jeden Donnerstag von 19 bis 21 Uhr.