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Helvetia «Mein Bruder wurde wegen seiner Hautfarbe verprügelt»

Schon als Kind fühlte sich Sarah Atcho wegen ihrer Herkunft als Aussenseiterin und wurde von anderen verspottet. Die erfolgreiche Sprinterin möchte heute darum andere junge Menschen im Sport fördern und unterstützen. In unserer Webserie «Helvetia» erzählt die 25-Jährige ihre Geschichte.

Sie ist Schweizerin, Marokkanerin und Ivorerin: Die Leichtathletin Sarah Atcho (25) ist in Cudy im Kanton Waadt aufgewachsen, aber für sie war nie alles selbstverständlich. Wegen ihrer Herkunft und Hautfarbe fühlte sie sich oft als Aussenseiterin – wie auch ihr grosser Bruder. Als er in die Schule kam, war er der einzige Schwarze in der Schule. «Er war cool, nett, lustig und sportlich. Aber er wurde jeden Tag nach dem Unterricht verprügelt. Warum? Weil er der einzige Schwarze war.»

Sie nannten meinen Bruder Adam die Kacke.

Auch Sarah bekam das zu spüren, als sie in die Schule kam. In ihrem ersten Skilager beispielsweise wurde sie sofort in die Anfängergruppe gesteckt, obwohl sie Skifahren konnte. «Ich verstand nicht, warum man mich ohne zu fragen in diese Gruppe steckte – obwohl alle anderen selber sagen konnten, in welche Gruppe sie gehen möchten.»

Die Aussenseiterin in der Schule

Als ihre Mutter ihr einmal Zöpfchen flocht, war Sarah sehr stolz darauf, bis ein Junge in der Schule mit aller Kraft daran riss und meinte, dass diese sowieso nicht echt seien. Alle hätten sie angeschaut und ausgelacht: «Da wurde mir bewusst, dass wenn man anders aussieht, es die Leute irgendwie beschäftigt. Aber anstatt zu fragen, reagiert man mit Gewalt, Häme und Spöttelei.»

‹Darf ich deine Haare anfassen?› – diese Frage kann ich nicht mehr hören! Warum willst du das? Ich verstehe das nicht.

Sarah fing an, ihre Haare zu glätten, denn «ich wollte mich integrieren, wo es nur möglich war.» Wenn ihre Mutter Couscous kochte, sagte sie ihr, dass das viel zu marokkanisch sei und sie besser Teigwaren kochen solle wie alle anderen. «Ich war nie gerne die Aussenseiterin. Die, die nicht geliebt wird. Also tat ich alles, damit mich alle mögen und ich dachte nie daran, meine eigene Persönlichkeit zu bilden.»

Erfolgreich im Sport

Selbstbewusster wurde Sarah, als sie Leichtathletik im Sportunterricht hatte. Es sei für sie das spannendste Jahr gewesen: «Plötzlich gab es einen Konkurrenzkampf mit den Jungs. Ich wollte sie natürlich alle schlagen.»

Heute bin ich nicht mehr das Mädchen aus Afrika, sondern die integrierte Afrikanerin, die etwas erreicht hat und richtig gut in ihrer Domäne ist.

Als Sarah immer besser, immer schneller und somit berühmter wurde, hätten die Leute ganz anders auf sie reagiert. Wenn sie sich vorstellt, spüre sie viel weniger Vorurteile als früher. «Heute bin ich nicht mehr das Mädchen aus Afrika, sondern die integrierte Afrikanerin, die etwas erreicht hat und richtig gut ist in ihrer Domäne.»

Als sie nach Lausanne kam, habe sie einen grossen Unterschied gespürt: «Hier hatte es viel mehr Schwarze und alle lebten friedlich miteinander. Afrikaner, Araber, einfach alle. Es war ganz normal.»

«Helvetia»

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Wie tickt die junge Schweiz? In der fünfteiligen Webserie «Helvetia» übernehmen junge Menschen mit und ohne Schweizer Pass das Wort. Sie erzählen persönliche Geschichten aus ihrer Kindheit, und von ihrer Herkunft.

Sie habe grosses Glück, heute in der ganzen Welt herumreisen zu dürfen. Aber die Tatsache, dass sie in die Schweiz kommen und sich hier zu Hause fühlen könne, «hat für mich den grösseren Wert als die Welt zu bereisen».

Ein Vorbild für junge Sportler*innen

Heute will Sarah ein Vorbild für junge Leute sein und sie im Sport unterstützen. «In der Leichtathletik gibt es eine Phase, in welcher du Unterstützung brauchst, um weiterzukommen». Sarah hatte das Glück, Jacky Delapierre von der Athletissima in Lausanne getroffen zu haben. «Hätte ich ihn nicht getroffen, wäre ich heute keine professionelle Sprinterin. Ich möchte diese Person für Junge sein. Warum auch nicht?»

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