Kindesmissbrauch. So weit ist es beim 27-jährigen Tom Lehmann* zum Glück noch nie gekommen. Doch sass er schon dreiviertel Jahre wegen Konsum von Kinderpornografie in Untersuchungshaft. Eine Zeit, die er heute bereut:
Für die Taten möchte ich keine Akzeptanz. Aber für den Menschen, der eine pädophile Neigung hat.
Rückblickend gesehen ist er froh, dass alles aufgeflogen ist. Er habe sich selbst nicht aus dieser Spirale holen können. Zu gross sei seine Angst vor der Reaktion seines Umfelds und der Gesellschaft gewesen.
Dass der ehemalige IT-Mitarbeiter Kinder anziehend findet, hat er aber schon relativ früh bemerkt.
Ich war 17 Jahre alt, als ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass ich auf 12- bis 14-Jährige stehe. Lange Zeit dachte ich aber, dass die Vorliebe für gleichaltrige Frauen dann schon irgendwann noch kommen wird.
Etwas, das sehr typisch sei, erklärt Monika Egli-Alge, Psychologin und Geschäftsführerin des Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio). Sie therapiert seit 13 Jahren Pädophile: «Viele Betroffene sagen, dass sie ihre Neigung im Verlauf ihrer Jugend bemerkt haben. Was genau sie empfinden, ist ihnen zu diesem Zeitpunkt aber oft gar nicht bewusst, weil das Alter der für sie anziehenden Kinder noch zu nahe an ihrem eigenen liegt.»
Das war auch bei Tom Lehmann der Fall. Erst als er mit 21 beim Sex mit seiner Partnerin aber noch immer an Kinder dachte, musste er sich eingestehen, dass er sexuell anders tickt.
Heute kann er mit seinem Schicksal umgehen, weiss wo seine Risiken sind – auch, weil er seit drei Jahren im Forio in Behandlung ist. So ist er sich sicher: «Es hätte nicht so weit kommen müssen, wenn man schon in jungen Jahren offen über dieses Thema sprechen und sich Hilfe holen könnte.»
Denn wenn man auch keinen Einfluss auf die sexuelle Neigung hat, so doch wenigstens auf das Verhalten.
Pädophilie: eine unheilbare Krankheit
Fachleute schätzen, dass in der Schweiz etwa zehntausend Menschen pädophil sind und sich jeder hundertste Mann zu Kindern hingezogen fühlt. «Aber längst nicht alle pädophilen Männer – und noch weniger pädophile Frauen – vergreifen sich tatsächlich an Kindern», erklärt Monika Egli-Alge:
Die Vorliebe vorpubertärer Körper heisst nicht gleich, dass man diese Fantasien in seinem Verhalten auch auslebt. Was im Kopf passiert, ist nicht unbedingt das, was jemand auf der Verhaltensebene macht.
Trotzdem: die Weltgesundheitsorganisation WHO listet Pädophilie als psychische Störung auf – und deklariert sie somit als Krankheit. Eine Krankheit, die nicht heilbar ist. Eine Krankheit, über die scheinbar niemand so wirklich sprechen mag.
Genau dort sieht Monika Egli-Alge Verbesserungspotential: «Pädophilie ist noch immer ein Tabuthema. Damit outet sich niemand. Dabei ist ein Schicksal, keine Wahl»
Deshalb sei es wichtig, dass man unaufgeregt und differenziert über diese sexuelle Präferenz sprechen könne: «Betroffene können und müssen lernen, damit umzugehen. Nur so kann man Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen», erklärt die Psychologin, die vor ihrer Tätigkeit im Forio Opfer sexueller Gewalt auf ihrem Weg begleitet hat.
Hier setzt das Forio an: Aktuell lernen dort über 30 pädophile Männer, die eigene sexuelle Neigung zu kontrollieren und das Risiko richtig einzuschätzen. So werden sie nicht zu Tätern oder – im Falle von bereits verurteilten Sexualstraftätern – rückfällig werden, sagt Egli-Alge.
Das könne bedeuten, dass der pädophile junge Mann, der jeden Abend nach der Arbeit seine Längen schwimmt, dies am Morgen tut – dann, wenn er keine Kinder im Hallenbad antrifft. Oder aber man verzichtet aufs Smartphone und den Laptop – und somit aufs Internet. In seltenen Fällen ist chemische Kastration ein Thema.
Den «typischen» Pädophilen gibt es nicht
Das Klientel im Forio ist bunt gemischt:
Vom Hilfsarbeiter bis zum Hochschulabsolvent, ledig und verheiratet, mit eigenen Kindern oder kinderlos und zwischen 16 und 72 Jahren alt. Wir haben die ganze Palette und man sieht es keinem an.
Nichtsdestoweniger gebe es auch immer wieder Behandlungsresistente, die ihre Neigung kategorisch verleugnen. Die Fachleute vom Forio haben dann keine Anzeigepflicht, nehmen sich aber das entsprechende Recht: «Wir erstatten Anzeige, wenn Gefahr in Verzug ist. Also dann, wenn uns eine Person beispielsweise mitteilt, dass sie gleich ein Kind missbraucht.»
* Name geändert