Karim*, Walid*, Valentin* und John* sind vier Männer, die viele Gemeinsamkeiten haben. Sie alle sind homosexuell und kommen aus Ländern, in denen Homosexualität verboten, verpönt oder gesellschaftlich nicht akzeptiert ist. Sie alle sind geflohen und hoffen in der Schweiz auf ein Leben ohne Angst. Und sie alle spielen eine Hauptrolle in unseren «Kreuz & Queer»-Folgen über LGBT-Flüchtlinge.
Karim, Walid, Valentin und John haben aber noch ein weiteres Merkmal gemeinsam: Sie alle sind Männer. Und zählen damit – zumindest was ihr biologisches Geschlecht betrifft – zur Mehrheit der Asylsuchenden in der Schweiz: Drei von vier Asylgesuchen werden bei uns von Männern gestellt .
Und was ist mit den Frauen?
Natürlich fliehen auch Frauen, wenn das Leben da, wo sie herkommen, unerträglich wird. Sie bleiben aber eher im gleichen Land – gehen also in die «Binnenmigration» - oder fliehen in Nachbarsländer. Bis zu uns gelangen sie selten, denn: «Die Flucht nach Europa ist enorm anstrengend. Viele Frauen sind dazu nicht in der Lage, weil sie körperlich zu schwach sind, Kinder haben oder schwanger sind», so Pascale Navarra von Queeramnesty Schweiz . «Ausserdem ist die Flucht nach Europa für Frauen um einiges risikoreicher als für Männer. Sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung sind keine Seltenheit auf der Flucht.»
Das Schweigen der Frauen
Dass bei «Kreuz & Queer» nur Männer portraitiert werden, liegt also einerseits daran, dass es schlicht viel weniger lesbische als schwule Flüchtlinge gibt in der Schweiz. Andererseits sind Frauen aber auch viel seltener dazu bereit, öffentlich über ihre sexuelle Orientierung und die damit einhergehenden Probleme in ihrer Heimat zu sprechen. Die Gründe dafür sind gemäss Pascale Navarra so vielfältig wie die Frauen, die sie betreut. «Oft sind die Frauen sich so sehr an das Versteckspiel gewöhnt, dass sie dieses Muster auch hier nicht durchbrechen können. Nie haben sie über ihre Gefühle und ihre Sexualität zu sprechen gelernt. ‹Lesbisch› ist zudem ein westlicher, von uns geprägter Begriff, mit dem viele dieser Frauen wenig anfangen können. Sie waren in ihrer Heimat verheiratet, haben vielleicht sogar Kinder. Wir würden sie darum wohl eher als bisexuell bezeichnen.»
Oft ist das Schweigen der Frauen aber auch ganz einfach eine Überlebensstrategie: «Lesbische Frauen erkennt man im Gegensatz zu schwulen Männern ja häufig nicht auf den ersten Blick. Würden sie von sich aus zu ihrer sexuellen Orientierung stehen, so wären sie auf der Flucht noch viel gefährdeter, als sie es als Frauen ohnehin schon sind», so Pascale Navarra. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Unterbringung in der Schweiz. «Schwule Männer werden in Schweizer Asylzentren häufig Opfer von Übergriffen, weil sie mit Menschen aus eben jener homophoben Kultur auf engstem Raum zusammenleben, aus der sie geflohen sind. Lesbischen Frauen würde es wohl ebenso – und schlimmer! – ergehen, wenn sie sich outen würden.»
Die Eine, die spricht
Olga* ist 31 Jahre alt, kommt aus der Ukraine und hat lange geschwiegen – aus vielen Gründen. «Da, wo ich herkomme, haben wir keine Rechte und keine Zukunft», erzählt sie. «Ich hatte mein Leben lang Angst, zu meiner Sexualität zu stehen. Noch nie durfte ich in der Öffentlichkeit die Hand meiner Freundin halten – das ist in der Ukraine viel zu gefährlich».
«Moment mal - die Ukraine?» mögen einige sich jetzt denken, «da gibt es doch sogar eine Gay Pride? Warum kann man denn da nicht zu seiner sexuellen Orientierung stehen?»
Und Recht haben sie – zum Teil: In der Ukraine gibt es im Gegensatz zu einigen afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Ländern tatsächlich kein Gesetz gegen Homosexualität. Allerdings gibt es auch keines, dass die Rechte von LGBT-Menschen explizit schützen würde – und das bräuchte es angesichts der in der Gesellschaft grassierenden Vorurteile dringend. Ein Grossteil der ukrainischen Bevölkerung hält Homosexualität nämlich für krank und sündig – eine Erfahrung, die auch Olga schon früh machen musste. «Als ich 18 Jahre alt war, habe ich meiner Mutter von meinen Gefühlen zu erzählen versucht. Sie hat geweint und gemeint, dass man dagegen doch bestimmt etwas machen könne – vielleicht durch beten in der Kirche oder durch eine Behandlung im Spital. Ich habe danach nie wieder über meine Sexualität gesprochen.»
Und ja, es gibt eine Gay Pride in Kiew. Nur waren dieses Jahr 5'000 Polizisten nötig, um 5'000 Teilnehmer vor den gewalttätigen Übergriffen rechtskonservativ-homophober Gegendemonstranten zu schützen. «Sie haben dann einfach Jagd auf Lesben und Schwule auf dem Heimweg von der Pride gemacht», erzählt Olga, «und das in der Hauptstadt! Die Situation in ländlichen Gebieten der Ukraine ist noch viel schlimmer.»
Ausserdem ist die Ukraine ein Land im Krieg – und dieser Krieg hat auch für die LGBT-Gemeinschaft gravierende Konsequenzen. «Plötzlich waren alle – auch eben jene rechtskonservativ-homophoben Gruppierungen – bewaffnet. Und ich spreche nicht von Pistolen oder so, sondern von ernsthaften Geschützen.»
Der Krieg und die Flucht
Der Krieg in der Ostukraine , in dem prorussische Separatisten um die Abspaltung der Bezirke Donezk und Luhansk vom ukrainischen Staat kämpfen, spielt in Olgas Geschichte eine entscheidende Rolle. Geboren und aufgewachsen in Donezk, floh sie vor einigen Jahren nach Kiew, um dort ein neues Leben zu beginnen. Das Problem: Wer aus Donezk kommt, steht in der Ukraine unter Generalverdacht, ein Separatist oder eine Separatistin zu sein. «Ich wurde überwacht, bespitzelt und verfolgt», erzählt Olga, «und irgendwann fanden sie heraus, dass ich lesbisch bin. Daraufhin wollten sie mich nach Donezk zurückschicken – auch wenn sie andere Gründe dafür angegeben haben als meine Sexualität. Also bin ich geflohen.»
Freunde und Familie blieben in der Ukraine zurück - einer der Gründe, warum Olga, die eigentlich anders heisst, ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. «Sie wären in Gefahr», sagt sie – eine Einschätzung, die auf handfester Erfahrung basiert: «Die letzte Person, mit der ich gesprochen habe, bevor ich geflohen bin, war meine Partnerin. Sie hat danach massive Probleme bekommen und musste die Ukraine ebenfalls verlassen. Sie ist jetzt auch in der Schweiz.»
Was für Probleme das waren und wie sie und ihre Freundin in die Schweiz gekommen sind, möchte Olga lieber nicht erzählen. Dafür ist es ihr wichtig zu sagen, warum sie sich für die Schweiz entschieden hat: «Ich habe gehört, dass die Schweiz ein ruhiges Land sei, das noch nie einen Krieg geführt hat. Ein Land mit einer langen humanitären Tradition, in dem ich und meine Partnerin unbehelligt leben können und uns nicht mehr verstecken müssen.»
Das Schweigen brechen
Obwohl Homosexualität in der Schweiz nur beschränkt als Asylgrund gilt (siehe Box), wird dieser Traum für Olga und ihre Partnerin wohl in Erfüllung gehen. Olga hat kürzlich einen B-Ausweis bekommen – darf also für mindestens fünf Jahre in der Schweiz bleiben, mit Aussicht auf unbefristete Verlängerung. Das Asylverfahren ihrer Freundin ist noch nicht abgeschlossen, die Chancen stehen aber gut. «Wir lassen gerade unsere Partnerschaft eintragen. Dann darf sie wahrscheinlich auch bleiben. Das wäre in der Ukraine niemals möglich gewesen.»
Olga ist dem Krieg und der Angst entkommen. Und jetzt hat sie auch das Schweigen gebrochen. «Jetzt, wo ich weiss, dass ich in der Schweiz bleiben darf, möchte ich meine Geschichte endlich erzählen. Mir ist es wichtig, dass die Menschen wissen, wie das Leben in der Ukraine für LGBT-Menschen wirklich ist – auch, wenn mir sprechen noch immer schwerfällt, nachdem ich mein ganzes Leben geschwiegen habe. Ich hoffe, es wird leichter mit der Zeit.»
*Namen geändert