Es ist nicht von der Hand zu weisen: Serien haben dem Kino und ähnlichen Unterhaltungsformen in den letzten Jahren den Rang abgelaufen. Einen massgeblichen Anteil an diesem Siegeszug haben Streamingdienste wie Prime Video oder Netflix.
«Stranger Things», «Dark» oder «House of Cards» heissen die süchtig machenden Eigenproduktionen, mit denen der Streaminggigant Netflix seine Abonnenten an die Empfangsgeräte fesselt. Der wichtigste Faktor des Erfolgsmodells: Es sind nicht einzelne Episoden, sondern jeweils ganze Staffeln, welche der Streamingdienst aufs Mal verfügbar macht.
Bei Netflix erscheinen die neuen Serien meistens am Freitag. Rechtzeitig zum Wochenende warten also bis zu dreizehn Stunden neuer Serienstoff auf den User – und zwar jede Woche.
Konnte man sich noch vor zwei Jahren problemlos jede Eigenproduktion des Dienstes anschauen, ist das heute nur noch möglich, wenn man sich ein paar Extratage im Kalender freischaufelt. Das Angebot wächst von Monat zu Monat.
Es ist unmöglich geworden, sich über Serien zu unterhalten
Die Nachteile der netflix'schen Content-Überflutung: Diskussionen über den Inhalt von Serien sind praktisch unmöglich geworden.
Als Serien wie «LOST», «Breaking Bad» oder «Mad Men» vor zehn Jahren den generellen Serienenthusiasmus angekurbelt haben, waren die sieben Tage bis zur nächsten Folge dafür da, um Mutmassungen und Theorien über den bisherigen und weiteren Verlauf einer Serie anzustellen. In den Zeiten von Netflix ist diese Art von Konversation nahezu ausgestorben.
Diskussionen über TV-Serien beschränken sich heutzutage auf: «Bei welcher Episode bist du?» und «Bist du schon durch?». Denn jeder schaut seine Serien im eigenen Tempo. Vorbei die Zeiten, in denen wir bis Dienstagabend 20:15 Uhr warten mussten, um endlich eine neue Folge der Lieblingsserie schauen zu können.
Und sind dann endlich mal alle Diskussionsteilnehmer auf dem gleichen Stand, mag sich niemand mehr an den Inhalt erinnern. Wer sich eine ganze Staffel innerhalb eines Wochenendes anschaut, kennt dieses Phänomen: Einzelne Episoden verschwimmen ineinander und man kann sich – wenn überhaupt – nur noch an vereinzelte Momente erinnern.
Anstatt sich kollektiv über neue Folgen einer Serie zu freuen, verkommen Netflix-Serien zu einem unbedeutenden Eintrag auf der immer wie länger werdenden, hyperpersonalisierten Check-Liste: «Uff, die neue Staffel ‹Jessica Jones› ist durch, check!» – und gleich danach geht's weiter mit «Love». Oder «Ugly Delicious». Oder «La casa de papel».
«Up-to-date» zu bleiben ist mittlerweile ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Schliesslich ploppt in einer Woche schon die nächste neue Serie auf der Startseite des Dienstes auf. Natürlich immer schön ausgestattet mit einem Vorschaubild, das auf den Geschmack des Users abgestimmt ist.
Keine Änderungen in Sicht
Selbstverständlich ist das Distributionsmodell von Netflix nicht in Stein gemeisselt. Der Konzern könnte es jederzeit ändern – wird es aber nicht tun.
Beispiel «Stranger Things». Mit dem 80er-Nostalgietrip hat Netflix im Juli 2016 einen Überraschungshit gelandet. Hätte der Streamingigant die neun Episoden der zweiten Staffel wöchentlich ausgestrahlt, hätten sich sämtliche Serien-Konversationen zwei Monate lang um «Stranger Things» gedreht. Stattdessen wurde die Staffel wie gewohnt an einem Wochenende in voller Länge veröffentlicht – und ist in unseren Köpfen so schnell gegangen, wie sie gekommen ist.
Aber warum ändert Netflix sein System nicht? Weil Netflix nicht im Unterhaltungsbusiness tätig ist, sondern ein Technologiekonzern ist, erklärt Matthew Ball.
Ball war einst «Head of Strategy» bei Amazon, dem grössten Konkurrenten von Netflix. Er sagt, dass sich Streamingdienste wie Netflix oder Prime Video nicht im Konkurrenzkampf mit herkömmlichen TV-Sendern, sondern mit Tech-Giganten wie Facebook oder Twitter sehen.
Darum stehen bei Firmen wie Netflix oder Amazon auch nicht die Qualität des Gezeigten im Vordergrund, sondern das «Engagement» seiner Nutzer. Netflix misst seinen Erfolg darin, wie viel Zeit seine Kunden auf der Plattform verbringen – und nicht, ob und wie sie qualitativ zufrieden sind.
Das Geschäftsmodell heisst «Quantität» und nicht «Qualität»
Hast du dich schon gefragt, wieso Netflix-Staffeln oftmals zu lange sind? Ist dir der Gedanke «Um diese Geschichte zu erzählen, hätten acht anstatt 13 Episoden wohl auch gereicht...» auch schon durch den Kopf gegangen? Ball behauptet: «Wenn sich 80 Nutzer eine zwölfstündige Serie anschauen, die von mittelmässiger Qualität ist, wertet das Netflix als grösseren Erfolg, als wenn sich 85 Nutzer ein sechsstündiges Meisterwerk anschauen.»
Einen Hit wie «Game of Thrones», der vom US-Sender HBO produziert wird und die wohl derzeit erfolgreichste Serie der Welt ist, werden wir von Netflix so schnell also nicht serviert bekommen. Quantität anstatt Qualität heisst das Motto bei Netflix. Und die Stossrichtung ist klar: Auch 2018 möchten wieder 7 Milliarden Dollar in rund 700 Eigenproduktionen investiert werden.