Ich, Rosanna Grüter, war 9 Jahre lang, von meinem 11. bis zum 20. Lebensjahr essgestört. Ich möchte die Geschichte meiner Sucht bei «True Talk» aus drei Gründen öffentlich machen:
1. Eine(r) muss es tun
In der Medienlandschaft – und nicht nur da! – sind viele dünn und ich wage zu behaupten, dass viele nicht so veranlagt sind. Trotzdem spricht kaum eine(r) öffentlich darüber.
Ich schon, weil ich mich für nichts zu schämen brauche. Wieder normal essen zu lernen, war die komplizierteste Lektion, die mir das Leben jemals auf den Lernplan schrieb. Dass ich sie – soweit das überhaupt möglich ist – gelöst habe, ist kein Grund, mich zu schämen, sondern eine Meisterleistung, auf die ich stolz bin.
Ich habe aufgehört, meine Sucht zu verheimlichen und bin mit zwei Freundinnen zusammengezogen, die mir dabei geholfen haben, wieder richtig zu essen.
2. Die öffentliche Meinung über Essstörungen
Es macht mich enorm wütend, dass das Bild von Essstörungen in der Öffentlichkeit immer noch komplett anders ist als das jeder anderen Sucht.
Die Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol wird als ernstzunehmende psychische (und physische) Krankheit wahrgenommen, die behandelt werden muss, um nicht tödlich zu enden. Bei einer Essstörung überwiegt immer noch die Meinung, dass sie irgendwie ein Zeichen von Schwäche ist.
Essstörungen unterscheiden sich insofern von anderen Süchten, weil sie sehr gesellschaftsfällig sind.
Viele denken, dass eine Essstörung sich mit ein bisschen innerer Abgrenzung vom gängigen Schönheitsideal und einem Steak kurieren lässt. Einfach gesagt: man solle doch einfach wieder mal was essen, dann höre der Spuk schon von selbst wieder auf.
Das ist ein unglaublicher Schwachsinn. Man ist süchtig und kann nicht einfach wieder normal mit seinem Suchtmittel umgehen.
Lasst euch an dieser Stelle gesagt sein: Essstörungen sind eine Sucht, welche die Lebenserwartung und Lebensqualität der Betroffenen massiv einschränkt. Die Dunkelziffer ist hoch, der Forschungsstand unbefriedigend, die Ursachen ungeklärt und die Behandlungsmöglichkeiten unausgereift. Davon wegzukommen ist genauso hart wie ein permanenter Drogen oder Alkoholentzug – und vielleicht sogar noch härter.
Man muss lernen, mit seinem Suchtmittel, das im Gegensatz zu Alkhol oder Drogen lebenswichtig ist, wieder normal umzugehen.
3. Meine Vorstellung von Moral
Dieses Jahr habe ich zusammen mit meinem Team die Sendung «True Talk» konzipiert und realisiert. Sprich: Ich habe hauptberuflich Menschen mit Eigenheiten und Eigenschaften gesucht, die in der Gesellschaft auf Vorurteile und Unverständnis stossen.
Ich habe diese Menschen vor eine laufende Kamera gesetzt und zugelassen, dass sie sich exponieren, indem sie über diese Eigenheiten sprechen. Sie haben sich mir – und uns allen – geöffnet, sie haben mir vertraut und haben die Reaktion der Öffentlichkeit nicht gescheut. Ich finde es daher nur richtig, an dieser Stelle dasselbe zu tun.
Beim Thema Essstörungen nicht selbst vor die Kamera zu treten, wäre nicht nur feige gewesen, sondern auch unfair gegenüber all jenen Menschen, die den Mut hatten, Teil von «True Talk» zu sein. Ich möchte euch allen an dieser Stelle noch einmal danken und bin froh, jetzt eine von euch zu sein.