Der Krieg. Der Grosse Vaterländische Krieg. Bis heute habe ich ihn täglich vor meinen Augen. Das Erinnerungsstück hängt an der Wand vor meinen Arbeitstisch – es ist eine Farbfotografie meiner Grossmutter Zoja Vitaljevna Maschtakova.
Versteckte Heldinnen
In ihrem schwarzen Jackett, drei Orden auf der rechten Seite und über einem Dutzend bunten Medaillen auf der linken. Die zwei Orden sind Orden des Vaterländischen Krieges, dazwischen Orden des Roten Sterns. Die Jacke ist mir sehr vertraut, denn als Kind habe ich meine Grossmutter immer zur Siegesparade am 9. Mai begleitet.
Die meisten Kriegsveteranen waren Männer. Laut meiner Grossmutter haben viele Frauen ihren Einsatz im Krieg verheimlicht. Sie fürchteten, als Offiziershuren bezeichnet zu werden.
Ich wunderte mich als Kind: warum versteckt man absichtlich sein Heldentum? Ich war stolz darauf, dass meine Grossmutter an der Front gekämpft hatte. Und ich wollte so stark sein wie sie.
Sie wollten nicht zugeben, dass sie im Krieg waren. Sie fürchteten, als Offiziershuren bezeichnet zu werden.
Allgegenwärtiger Krieg
Der Krieg war bei uns in der Familie immer präsent. Bei jedem Fest ging der erste Toast an das Andenken des Grossen Vaterländischen Kriegs. Wir Enkelkinder, teilten uns in zwei Gruppen und spielten Krieg. «Hände hoch! Hitler kaputt!» Und es siegten die Guten, die Rotarmisten. Keiner von uns wollte auf der Seite der Deutschen spielen.
Wir Kinder träumten davon, selbst für das Vaterland zu sterben und lernten, diesen Tod zu lieben.
Wenn wir Babuschka baten, vom Krieg zu erzählen, bekamen wir immer die gleichen Geschichten zu hören. Es waren Geschichten über das Heldentum der russischen Armee, über Hunger, den sie gelitten hat, über ihr verwundetes Pferd, welches meine Grossmutter durch einen Schuss vom Leiden befreite. Wir Kinder träumten davon, selbst für das Vaterland zu sterben und lernten, diesen Tod zu lieben.
Traditionell verstummte Familie
Aber ich spürte auch, dass gerade das Nichterzählte ein Teil meines Selbst geworden war. Immer wieder habe ich versucht, meine Grossmutter über den Krieg auszufragen, wurde aber von meinen Eltern ermahnt, ihr keine unangenehmen Fragen mehr zu stellen. Ich hörte auf nachzubohren und verstummte in der traditionellen Art unserer Familie.
Bis vor zwei Jahren lebte ich in Berlin, in das einst die Rote Armee einmarschiert war, und nach zahlreichen Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Verwüstungen das Ende des Krieges einleitete. Meine Grossmutter Zoja Maschtakova war eine von vielen Rotarmistinnen, die sich in Berlin auf den Heimweg freuten und auf ein Leben ohne Krieg.
Später, als ich mich traute Fragen, zu stellen, bezeugte sie mir die Rachetaten der Rotarmisten am Ende des Krieges. Eine eiserne Ruhe war in ihrer Stimme zu hören. «Sie haben es verdient», sagte sie, «sie haben unseren Frauen und Kindern das Gleiche und noch Schlimmeres angetan.»
Das Land ihrer geraubten Jugend
Zum Zeitpunkt als ich das Interview mit meiner Grossmutter drehte, lebte ich mit meinem deutschen Mann und unseren zwei Kinder in Berlin. Ich habe meine Babuschka gefragt, wie sie es findet, dass ich, ihre Enkelin, in einem Land lebe, das ihr einst ihre Jugend geraubt hatte.
Sie äusserte sich knapp, sagte nur, es sei nun halt so gekommen, und sie habe sich damit abgefunden. Damals machte ich mir keine Gedanken, was sie wirklich darüber dachte. Heute vermute ich, sie war sehr resigniert, weil meine Schwestern und ich, ihre Enkelinnen, auf der Suche nach einem besseren Leben ausgerechnet nach Deutschland gegangen waren.