Der Wecker klingelt morgens um fünf Uhr. Eine halbe Stunde später sitze ich mit dem Schweizer Rolf Gloor im Auto. Vor uns liegt eine sechsstündige Fahrt quer durch die Turkana Wüste im Nordwesten von Kenia. Ziel unserer Fahrt ist ein kleines Nest namens Orwa, das im Grenzgebiet der beiden Stämme Turkana und Pokot liegt.
Jahrelang schon bekämpften sich die beiden archaischen Volksgruppen bis aufs Blut. Gegenseitig klauten sie sich die Kuhherden und brachten dabei gleich systematisch deren Hirten um. Unzählige Menschen starben darunter auf viele Kinder. Seit einem Jahr herrscht nun Frieden zwischen den beiden Stämmen und dies nicht zuletzt dank eines Projekts, welches Rolf Gloor initiiert hat.
Alles kommt anders
In Orwa treffen wir ehemalige Krieger, um von ihnen zu erfahren, wie sich das Leben seit dem Ende der Kämpfe verändert hat. Das Treffen mit den rund 50 geladenen Kriegern sollte um die Mittagszeit stattfinden. Doch nach circa 50 Kilometern Fahrt platzt plötzlich ein Reifen. «Routinesache, das passiert oft auf diesen holprigen Pisten», sagt Gloor und macht sich daran, das Reserverad aus dem Kofferraum zu holen. «Keine Luft drin. Ich habe vergessen den Luftdruck vor Abfahrt zu überprüfen», bemerkt der Schweizer stirnrunzelnd.
Allerdings bleiben wir nicht lange im Wüstensand stecken, ein kleines Wunder rettet uns aus der Misere – denn just in diesem Augenblick fährt jener Personenbus vorbei, der einmal im Tag die 250 Kilometer lange Wüste durchquert. Rolf Gloor steigt mit dem Ersatzrad in den Bus ein, der ihn an unseren Ausgangsort nach Lodwar zurückbringen wird.
In knappen Worten erklärt er mir noch seinen Plan: «Ich lasse den Reifen in der Ortschaft pumpen, kehre mit einem Töff-Taxi zurück und du bewachst inzwischen das Auto. Auf Wiedersehen, bis bald.» Und schon verschwindet der Bus in einer Staubwolke am Horizont.
Alleine in der Wüste
So stehe ich nun alleine in der Wüste und höre ausser dem Wind kein Geräusch. Die Zeit scheint stillzustehen. Stundenlang. Kurz bevor die Sonne am Zenit steht – bei geschätzten Temperaturen von 40 Grad – sehe ich, wie sich mir ein Motorrad mit zwei Personen nähert. Es ist der Taximotorrad-Fahrer mit Rolf Gloor. Auf dem Gepäckträger führen sie das inzwischen gepumpte Ersatzrad mit.
Schnell ist das Reserverad am Wagen aufgesetzt und weiter geht die Fahrt. Rolf bleibt ruhig, obwohl unser Zeitplan arg durcheinander gewirbelt wurde. Seit zwanzig Jahren lebt er schon in Afrika und in dieser Zeit hat er gelernt, dass es oft anders kommt als man denkt. Aber diesmal kommt es noch viel anders, als erwartet.
Ein Vorderrad macht sich selbständig
Die Weiterfahrt dauert nur gerade zehn Minuten. Dann neigt sich das Auto mit einem Ruck auf die Seite, bleibt erneut im Sand stecken und ich sehe, wie das linke Vorderrad alleine durch die Wüste weiterrollt. Wir haben ein Rad verloren und nicht nur das. Auch die Radmuttern sind weg, verschluckt vom Sand. Ruhig steigt Rolf Gloor aus dem Auto, kratzt sich am Kopf, zündet sich den Tabak in seiner Pfeife an und murmelt vor sich hin: «Studieren, ich muss studieren.»
Dann holt er das verlorene Rad, kramt den Wagenheber hervor und bockt damit das Auto auf. Dann schraubt er je eine Radmutter von den drei anderen Rädern ab und fixiert damit jenes, welches sich verselbständigt hat. Was hier in Kürze beschrieben ist, dauert in Tat und Wahrheit recht lange. Immer wieder sackt der Wagenheber im Sand ein. Abhilfe schafft ein Stein, den wir nach langem Suchen in der Sandwüste finden. Er dient dem Wagenheber als stabile Unterlage und ermöglicht endlich das Aufbocken des Wagens. Dann fahren wir vorsichtig und langsam zurück nach Lodwar, wo wir zwei weitere Stunden damit verbringen, Radmuttern aufzutreiben.
Ein Termin ist ein Versprechen
Am späteren Nachmittag machen wir uns erneut auf den Weg. Ohne weitere Panne durchqueren wir nun die Wüste. Unser Termin scheint aber längst geplatzt zu sein in dieser unberechenbaren Welt, in der Ereignisse Zeitangaben relativ erscheinen lassen und Uhren bedeutungslos werden. So gegen 20 Uhr erreichen wir Orwa. Ich bin müde und enttäuscht, weil der geplante Termin mit den Kriegern aufgrund der Geschehnisse wohl geplatzt ist. Doch als wir den Hauptplatz erreichen, werde ich eines Besseren belehrt. Da warten tatsächlich noch immer die rund 50 Krieger auf uns – acht Stunden nach dem vereinbarten Termin.
Vorwürfe müssen wir uns keine anhören. Die Menschen hier messen Pünktlichkeit nicht in Sekunden, Minuten oder Stunden, sondern in einer Art von Verbindlichkeit. Ein Termin ist ein Versprechen, das grundsätzlich eingehalten wird. Doch wer zu spät kommt, wird hier nicht so schnell vom Leben bestraft. Langsam begreife ich, dass es den Turkana und Pokot nicht um die absolute Zeit geht, die sie mit Warten verbringen.
Ich behaupte sogar, dass sie das Warten als eine Zeit der Vorfreude begreifen, als einen Teil des Treffens, das vielleicht besser ist als das Ereignis selbst. Ja, Afrika tickt anders. Und als Erkenntnis dieser Geschichte nehme ich mit nach Hause: Letztlich geht es nicht um die absolute Zeit, die ein Wartender verbringt, sondern darum, ob derjenige sich dabei ärgert.