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Heim- und Verdingkinder – Die Aufarbeitung eines grossen Unrechts
Aus DOK vom 09.04.2023.
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Aufarbeitung eines Unrechts Heim- und Verdingkinder – Der Versuch einer Wiedergutmachung

Heim- und Verdingkinder bekamen eine Entschuldigung und 25'000 Franken. Ist das ein historischer Erfolg oder doch nur ein fauler Kompromiss?

Mindestens 60'000 Menschen wurden in der Schweiz im 20. Jahrhundert Opfer von administrativen Versorgungen. Dazu kommen Heim- und Verdingkinder und Opfer von Übergriffen in kirchlichen Institutionen. Sie wurden entrechtet, erniedrigt und missbraucht. Was diese Menschen erlebten, prägte sie, zeichnete sie für ihr Leben.

Was damals passierte, war lange nur bruchstückhaft bekannt. Nach Jahrzehnten erst entschuldigte sich die Schweiz und leistete einen «Solidaritätsbeitrag» von 25'000 Franken pro Opfer.

Ende gut, alles gut? Das finden nicht alle Betroffenen. Es gibt auch Betroffene die finden, die Aufarbeitung und die einmaligen 25'000 Franken seien kein historischer Erfolg, sondern ein fauler Kompromiss gewesen.

Es gibt böse Menschen
Autor: Mario Delfino Ehemaliges Heimkind

Mario Delfino erinnert sich an einen unbeschwerten Lebensanfang in einem Waisenhaus in Norditalien. Dann adoptiert ihn ein kinderloses Ehepaar aus der Schweiz. Und ein Albtraum beginnt. Er wird stundenlang eingesperrt und geschlagen. «Es gibt böse Menschen», sagt Mario Delfino

Er ist 13, als er mit zwei Kollegen eine Geldkassette klaut, über den eigenen Mut erschrickt und sofort alles zurückgibt. Trotzdem sind sich Jugendanwaltschaft und Adoptivmutter einig: Der Junge muss in ein Heim für Schwererziehbare.

Die Polizei fährt 1968 mit einem Kastenwagen vor der Schule des 13-Jährigen vor. Er wird in Handschellen gelegt und ins luzernische Knutwil gefahren. Dort werden ihm die Haare geschoren. Er erhält eine Anstaltsnummer: 119

Im Heim wird alles noch schlimmer

Das Heim in Knutwil ist damals religiös geführt. Katholische Ordensmänner sollen die Halbwüchsigen auf den rechten Weg zurückführen. Mit roher Gewalt. Im Klassenzimmer kann schon ein Räuspern zu einer blutigen Tracht Prügel führen.

In der Nacht versteckt sich Delfino unter seiner Decke: «Das war mein seelischer Schutz: Man hat dann nichts gehört und nichts gesehen.» Bis ihn ein Ordensmann eines Nachts auf den Flur hinaus bittet, wo bereits andere Zöglinge stehen. Delfino findet sich in den Fängen eines pädophilen Sadisten wieder. Dieser geilt sich zunächst an den Jungen auf, dann nimmt er einen von ihnen mit aufs Zimmer.

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«Wir Kinder sind erstarrt vor Angst», Mario Delfino ehemaliges Heimkind
Aus DOK vom 01.10.2020.
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Ich musste es über mich ergehen lassen
Autor: Berthy Schnegg Ehemaliges Verdingkind

Berthy Schnegg ist 5, als sich ihre Eltern scheiden lassen. Sie landet als Verdingkind im Berner Oberland. «Liebe war damals ein Fremdwort für mich», erinnert sie sich. Schläge sind an der Tagesordnung. Der «Verding-Vater» nennt seinen Lederriemen «Joggi». Damit prügelt er sie regelmässig grün und blau.

Die Situation spitzt sich zu, als sie in die Pubertät kommt. Ihr «Verding-Bruder» ist 14 Jahre älter als sie. Er bedrängt und betatscht sie. Eines Nachts geht er weiter: Er steht in ihrem Zimmer und sagt, sie solle doch «ein bisschen lieb» mit ihm sein. «Ich musste es über mich ergehen lassen», erinnert sich die 76-Jährige.

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«Ich wurde mit dem Lederriemen geschlagen», Berthy Schnegg ehemaliges Verdingkind
Aus DOK vom 01.10.2020.
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Mario Delfinos Vergangenheit blieb jahrzehntelang ein gut gehütetes Geheimnis. Lange wussten nicht einmal seine Frau und sein Sohn, was damals genau passiert war.

Das änderte sich erst mit der sogenannten Wiedergutmachungs-Initiative. Diese kommt 2014 mit 110'000 Unterschriften zustande. Sie will eine umfassende Aufarbeitung, eine Entschuldigung – und: Geld. Rund 9'000 Gesuche werden schliesslich bewilligt.

Der lange Weg der Aufarbeitung

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Historiker, linke Politiker und Betroffene versuchten immer wieder, eine umfassende Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte zu erwirken. Und eine Wiedergutmachung.

Gründung einer Expertenkommission

Kirche, Bauernverband und Behörden verhinderten dies jedoch lange erfolgreich. Den entscheidenden ersten Schritt machte die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, indem sie sich 2010 im Frauengefängnis Hindelbank offiziell bei den administrativ Versorgten entschuldigte.

Das politische Kalkül dahinter: Sie wollte einen Präzedenzfall schaffen. Es dauert 3 Jahre, bis das Parlament nachzieht: Die administrativ Versorgten werden rehabilitiert. Und eine «Unabhängige Expertenkommission», kurz UEK, soll die Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten. Aber Geld fliesst keines.

«Wegschauen ist auch eine Handlung.»

Inzwischen ist Simonetta Sommaruga Justiz-Ministerin. Nach dem Präzedenzfall, den ihre Vorgängerin Widmer-Schlumpf geschaffen hat, will sie nun eine Aufarbeitung für alle Opfergruppen. 2013 sagt sie an einem Gedenkanlass in Bern: «Wegschauen ist auch eine Handlung.» Die Schweiz müsse nun hinschauen. Zudem stellten sich auch «finanzielle Fragen».

Das ist neu: Eine Bundesrätin spricht von Geld. Und sie schafft einen Runden Tisch. Dieser soll eine umfassende Aufarbeitung anstossen und Massnahmenvorschläge erarbeiten – mit Betroffenen, Behörden, Kirchen und dem Bauernverband. Die politischen Mehrheiten im Parlament sind allerdings gegen Sommaruga.

Die Wiedergutmachungsinitiative

Die Aufarbeitung droht auf halbem Wege stecken zu bleiben. Bis der Unternehmer Guido Fluri auftaucht und eine sogenannte Wiedergutmachungsinitiative lanciert. Diese will eine umfassende Aufarbeitung, eine Entschuldigung – und: 500 Millionen Franken. Der Druck auf die Politik steigt nun entscheidend.

25'000 Franken pro Opfer

Der Bundesrat legt dem Parlament einen indirekten Gegenvorschlag zu Fluris Initiative vor: Bundesrätin Sommaruga möchte, dass sich die Schweiz entschuldigt, umfassend aufarbeitet und 300 Millionen Franken zahlt.

Auf der Zielgeraden wird zudem ein Maximalbetrag fixiert: 25'000 Franken pro Opfer. Zuerst stimmt der Nationalrat diesem indirekten Gegenvorschlag klar zu, später auch der Ständerat. Fluri akzeptiert und zieht seine Initiative zurück. Das entsprechende Bundesgesetz entsteht innert weniger Monate. Rund 9'000 Gesuche werden schliesslich bewilligt.

Die Forderung nach einer lebenslangen Rente

Ende gut, alles gut? Einer der letzten Akte der Aufarbeitung setzt ein ganz anderes Zeichen: Die «Unabhängige Expertenkommission», kurz UEK, hat geladen. Der Anlass hat Gewicht. Die UEK wurde 2014 vom Bundesrat eingesetzt, um die Geschichte der administrativ Versorgten aufzuarbeiten.

2019 übergibt sie ihren Bericht samt Empfehlungen der amtierenden EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter. Der erste Redner nach dem UEK-Präsidenten setzt den Ton. Andreas Jost, selber Betroffener, sagt, mit den 25'000 Franken könne es nicht getan sein. Er fordert unter anderem eine lebenslange Opferrente. Eine Forderung, welche die UEK aufnimmt und dem Bundesrat zur Umsetzung empfiehlt.

Auch das von Mario Delfino und Berthy Schnegg. Diese offizielle Anerkennung des Leides sei wichtig gewesen, sagt Andreas Schnegg, «für meine Mutter und für uns als Familie». Und auch Mario Delfino ist nun einen «extremen Schritt weiter», findet seine Frau Käthi Delfino.

Die 25'000 Franken seien ein willkommener Zustupf gewesen. Aber viel wichtiger: Sie hätten endlich offen über alles geredet. Ende gut, alles gut?

Ich fühle mich aufs Gröbste verarscht.
Autor: Andreas Jost Ehemaliges Heimkind

Andreas Jost findet: Nein! Er ist selber Betroffener und hat sich aktiv am Aufarbeitungsprozess beteiligt. Der Heimwerker und IV-Rentner sagt: 25'000 Franken für seine traumatische Jugend im Heim – ein schlechter Witz!

«Ich fühle mich aufs Gröbste verarscht.» Jedem Betroffenen sei ein Millionenverlust entstanden: etwa durch die fehlende Ausbildung und den verpassten Einstieg ins Berufsleben. Das Erreichte sei «ein fauler Kompromiss», findet Jost. Er fordert mehr, viel mehr. Nämlich eine lebenslange Opferrente.

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«Ich fühle mich aufs Gröbste verarscht», Andreas Jost ehemaliges Heimkind
Aus DOK vom 01.10.2020.
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Historischer Erfolg oder fauler Kompromiss?

Man könnte Jost als notorisch unzufriedenen Querulanten abtun. Die sogenannte UEK tat es nicht. UEK steht für «Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen». Diese wird 2014 vom Bundesrat eingesetzt und übergibt ihm 2019 ihren Bericht samt Empfehlungen, unter anderem: eine Opferrente.

Diese Empfehlungen basieren auf den Vorarbeiten einer kleinen Arbeitsgruppe, in der auch Andreas Jost massgeblich mitarbeitete. Und als die UEK dem Bundesrat ihre Empfehlungen übergibt, bittet der UEK-Präsident als ersten Redner Andreas Jost auf die Bühne.

Dieser nutzt das Podium und sagt, er sei «tief betroffen», dass es viele Menschen gebe, die meinten, mit den 25'000 Franken sei es getan. Die Aufarbeitung sei nicht abgeschlossen, sondern habe gerade erst begonnen.

Glauben Sie mir: 80 bis 90 Prozent der Betroffenen sind sehr zufrieden mit dem Erreichten.
Autor: Guido Fluri Urheber der Wiedergutmachungsinitiative

Josts Auftritt löst ein mittleres Erdbeben aus. Einige jubeln, andere sind entsetzt. Einerseits angesichts seiner Aussagen, andererseits gegenüber jenen, die ihm ein Podium boten.

Die zentrale Frage: Für wen spricht Jost? Nur für sich? Oder für eine kleine Gruppe Unzufriedener? Oder für viele Betroffene? «Glauben Sie mir: 80 bis 90 Prozent der Betroffenen sind sehr zufrieden mit dem Erreichten», sagt Guido Fluri, der Urheber der sogenannten Wiedergutmachungsinitiative. Ist das Erreichte ein historischer Erfolg? Oder ein fauler Kompromiss? Die Wahrnehmungen gehen offenbar weit auseinander.

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