Mindestens 60'000 Menschen wurden in der Schweiz im 20. Jahrhundert Opfer von administrativen Versorgungen. Dazu kommen Heim- und Verdingkinder und Opfer von Übergriffen in kirchlichen Institutionen. Sie wurden entrechtet, erniedrigt und missbraucht. Was diese Menschen erlebten, prägte sie, zeichnete sie für ihr Leben.
Was damals passierte, war lange nur bruchstückhaft bekannt. Nach Jahrzehnten erst entschuldigte sich die Schweiz und leistete einen «Solidaritätsbeitrag» von 25'000 Franken pro Opfer.
Ende gut, alles gut? Das finden nicht alle Betroffenen. Es gibt auch Betroffene die finden, die Aufarbeitung und die einmaligen 25'000 Franken seien kein historischer Erfolg, sondern ein fauler Kompromiss gewesen.
Es gibt böse Menschen
Mario Delfino erinnert sich an einen unbeschwerten Lebensanfang in einem Waisenhaus in Norditalien. Dann adoptiert ihn ein kinderloses Ehepaar aus der Schweiz. Und ein Albtraum beginnt. Er wird stundenlang eingesperrt und geschlagen. «Es gibt böse Menschen», sagt Mario Delfino
Er ist 13, als er mit zwei Kollegen eine Geldkassette klaut, über den eigenen Mut erschrickt und sofort alles zurückgibt. Trotzdem sind sich Jugendanwaltschaft und Adoptivmutter einig: Der Junge muss in ein Heim für Schwererziehbare.
Die Polizei fährt 1968 mit einem Kastenwagen vor der Schule des 13-Jährigen vor. Er wird in Handschellen gelegt und ins luzernische Knutwil gefahren. Dort werden ihm die Haare geschoren. Er erhält eine Anstaltsnummer: 119
Im Heim wird alles noch schlimmer
Das Heim in Knutwil ist damals religiös geführt. Katholische Ordensmänner sollen die Halbwüchsigen auf den rechten Weg zurückführen. Mit roher Gewalt. Im Klassenzimmer kann schon ein Räuspern zu einer blutigen Tracht Prügel führen.
In der Nacht versteckt sich Delfino unter seiner Decke: «Das war mein seelischer Schutz: Man hat dann nichts gehört und nichts gesehen.» Bis ihn ein Ordensmann eines Nachts auf den Flur hinaus bittet, wo bereits andere Zöglinge stehen. Delfino findet sich in den Fängen eines pädophilen Sadisten wieder. Dieser geilt sich zunächst an den Jungen auf, dann nimmt er einen von ihnen mit aufs Zimmer.
Ich musste es über mich ergehen lassen
Berthy Schnegg ist 5, als sich ihre Eltern scheiden lassen. Sie landet als Verdingkind im Berner Oberland. «Liebe war damals ein Fremdwort für mich», erinnert sie sich. Schläge sind an der Tagesordnung. Der «Verding-Vater» nennt seinen Lederriemen «Joggi». Damit prügelt er sie regelmässig grün und blau.
Die Situation spitzt sich zu, als sie in die Pubertät kommt. Ihr «Verding-Bruder» ist 14 Jahre älter als sie. Er bedrängt und betatscht sie. Eines Nachts geht er weiter: Er steht in ihrem Zimmer und sagt, sie solle doch «ein bisschen lieb» mit ihm sein. «Ich musste es über mich ergehen lassen», erinnert sich die 76-Jährige.
Mario Delfinos Vergangenheit blieb jahrzehntelang ein gut gehütetes Geheimnis. Lange wussten nicht einmal seine Frau und sein Sohn, was damals genau passiert war.
Das änderte sich erst mit der sogenannten Wiedergutmachungs-Initiative. Diese kommt 2014 mit 110'000 Unterschriften zustande. Sie will eine umfassende Aufarbeitung, eine Entschuldigung – und: Geld. Rund 9'000 Gesuche werden schliesslich bewilligt.
Auch das von Mario Delfino und Berthy Schnegg. Diese offizielle Anerkennung des Leides sei wichtig gewesen, sagt Andreas Schnegg, «für meine Mutter und für uns als Familie». Und auch Mario Delfino ist nun einen «extremen Schritt weiter», findet seine Frau Käthi Delfino.
Die 25'000 Franken seien ein willkommener Zustupf gewesen. Aber viel wichtiger: Sie hätten endlich offen über alles geredet. Ende gut, alles gut?
Ich fühle mich aufs Gröbste verarscht.
Andreas Jost findet: Nein! Er ist selber Betroffener und hat sich aktiv am Aufarbeitungsprozess beteiligt. Der Heimwerker und IV-Rentner sagt: 25'000 Franken für seine traumatische Jugend im Heim – ein schlechter Witz!
«Ich fühle mich aufs Gröbste verarscht.» Jedem Betroffenen sei ein Millionenverlust entstanden: etwa durch die fehlende Ausbildung und den verpassten Einstieg ins Berufsleben. Das Erreichte sei «ein fauler Kompromiss», findet Jost. Er fordert mehr, viel mehr. Nämlich eine lebenslange Opferrente.
Historischer Erfolg oder fauler Kompromiss?
Man könnte Jost als notorisch unzufriedenen Querulanten abtun. Die sogenannte UEK tat es nicht. UEK steht für «Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen». Diese wird 2014 vom Bundesrat eingesetzt und übergibt ihm 2019 ihren Bericht samt Empfehlungen, unter anderem: eine Opferrente.
Diese Empfehlungen basieren auf den Vorarbeiten einer kleinen Arbeitsgruppe, in der auch Andreas Jost massgeblich mitarbeitete. Und als die UEK dem Bundesrat ihre Empfehlungen übergibt, bittet der UEK-Präsident als ersten Redner Andreas Jost auf die Bühne.
Dieser nutzt das Podium und sagt, er sei «tief betroffen», dass es viele Menschen gebe, die meinten, mit den 25'000 Franken sei es getan. Die Aufarbeitung sei nicht abgeschlossen, sondern habe gerade erst begonnen.
Glauben Sie mir: 80 bis 90 Prozent der Betroffenen sind sehr zufrieden mit dem Erreichten.
Josts Auftritt löst ein mittleres Erdbeben aus. Einige jubeln, andere sind entsetzt. Einerseits angesichts seiner Aussagen, andererseits gegenüber jenen, die ihm ein Podium boten.
Die zentrale Frage: Für wen spricht Jost? Nur für sich? Oder für eine kleine Gruppe Unzufriedener? Oder für viele Betroffene? «Glauben Sie mir: 80 bis 90 Prozent der Betroffenen sind sehr zufrieden mit dem Erreichten», sagt Guido Fluri, der Urheber der sogenannten Wiedergutmachungsinitiative. Ist das Erreichte ein historischer Erfolg? Oder ein fauler Kompromiss? Die Wahrnehmungen gehen offenbar weit auseinander.