Nun hat sie begonnen, die umstrittene WM, mit Misstönen, wie erwartet. Auch die heftige Diskussion darüber, wie viele Arbeitsmigranten auf den WM-Baustellen ihr Leben lassen mussten, reisst nicht ab.
Die Gewerkschaften haben immer von drei verunfallten Arbeitern gesprochen und wurden dafür heftig kritisiert. Rita Schiavi, langjähriges Vorstandsmitglied der Schweizer Gewerkschaft Unia, hat die Inspektionen in Katar begleitet. Sie sagt: «Das ist das, was wir mit Sicherheit sagen können zu den Leuten, die auf den Stadionbaustellen verunfallt sind ab 2016».
Heute müssen alle Arbeiter zu einem Gesundheitscheck.
Hitzestress war für die Gewerkschaften von Anfang an ein Thema, betont sie. Die Internationale Bau- und Holzarbeiter Gewerkschaft (BHI) hätte deswegen bereits nach der WM-Vergabe 2010 interveniert. 2014 wurde deshalb eine Zwangsmittagspause von 11 bis 15 Uhr während der Sommermonate eingeführt.
«Auf den Stadionbaustellen wurde, und das war eine ganz wichtige Sache, die Arbeitsmedizin aufgebaut. Seither müssen alle Arbeiter zu einem Gesundheitscheck und Menschen, die Vorerkrankungen oder Probleme mit Hitze haben, werden gar nicht mehr zugelassen.»
Gewerkschaften als Sprachrohr der Regierung?
Rita Schiavi präzisiert, mit der Regierung habe es am Anfang gar keine Zusammenarbeit gegeben, sondern nur mit dem Supreme Committee. Dieses ist die Vertretung der FIFA in Katar. «Diese Zusammenarbeit war von Beginn an gut». Das Supreme Committee habe sich bemüht, die Probleme zu reduzieren und hätte beispielsweise das neue Arbeitsmedizin-System entwickelt.
Die Zusammenarbeit mit der katarischen Regierung, konkret mit dem Arbeitsministerium, habe erst begonnen, nachdem die BHI über die Internationale Labour Organisation (ILO) eine Klage gegen Katar eingereicht habe. Daraufhin hat die ILO mit Katar ein Abkommen unterzeichnet und ab 2017 mit der Regierung zusammen Verbesserungen des Arbeitsgesetzes ausgearbeitet.
Wir haben nicht einmal ein Mittagessen bezahlt bekommen.
Bestechungsversuche habe es in ihrem Umfeld nie gegeben, weder vonseiten des Supreme Committees noch vonseiten des Arbeitsministeriums, betont die Gewerkschafterin. «Das kann ich 100-prozentig sagen. Wir haben nicht einmal ein Mittagessen bezahlt bekommen». Auch gegen den Vorwurf, man habe sich die «geschönte» Fassade skandalöser Arbeitsbedingungen zeigen lassen, wehrt sich Rita Schiavi.
Geschulte Arbeitsinspektoren hätten das ausgeschlossen. «Die Gerüste zum Beispiel sind entweder richtig oder falsch montiert und gesichert, da kann man gar nichts umbauen. Abgesehen davon hatten wir ja auch Kontakt zu den Arbeitern und hätten sicher von jedem Unfall, der uns nicht gemeldet wurde, erfahren. Wir hatten Gruppen von Arbeitern aufgebaut und mit denen konnten wir auch ausserhalb der Stadien reden».
Was haben die Gewerkschaften erreicht?
Eine der wichtigsten Errungenschaften, nach Meinung der Gewerkschaften ist die Abschaffung des Kafala-Systems. Dieses System sah vor, dass Arbeitsmigrantinnen und Migranten für eine gewisse Zeit in Katar bei einem bestimmten Arbeitgeber arbeiten durften. Sie mussten jedoch ihre Pässe abgeben, eine Vermittlungsgebühr bezahlen und waren vollkommen von der Arbeitgeberin abhängig. Sie durften während dieser Zeit ihre Stelle nicht wechseln und hatten weder Lohn- noch Versicherungsschutz. Das Kafala-System wurde zwar erst 2020 abgeschafft, aber bereits seit 2017, betont Rita Schiavi, müssten alle Firmen den Lohn, den sie bezahlt hätten, über eine Clearingstelle abwickeln, damit das Arbeitsministerium jederzeit kontrollieren könne, ob die Löhne wirklich bezahlt worden seien.
Trotzdem ist es für die Arbeiter immer noch schwierig, ihre Rechte geltend zu machen.
Obwohl seit 2020 etwa 300’000 Fremdarbeiter ihren Arbeitgeber gewechselt hätten, gestalte sich ein Wechsel zum Teil nach wie vor schwierig. Gerade in kleinen Betrieben werde von den Arbeitgebenden oft Druck ausgeübt.
Arbeitgeber drohten zum Beispiel mit Anzeigen, sagt Schiavi: «Bei Hausangestellten kann er sagen: ‹Diese Person hat bei mir im Haushalt gestohlen›. Und schon fliegt sie aus dem Land».
Was müsste noch verbessert werden?
«Die grosse Herausforderung nach der WM ist, das Erreichte für alle Arbeitsmigrantinnen und Migranten zu implementieren. Wir haben immer gesagt: ‹Wir wollen, dass es für alle Arbeiter in Katar besser wird›», betont Schiavi.
In Katar wird nicht nur für die WM gebaut. Zirka zwei Millionen Arbeitsmigrantinnen und Migranten sind immer noch im Land. Die Gewerkschaften haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Situation auf diesen Baustellen schlechter ist als auf den WM-Baustellen.
Wir zählen auf den Druck der Öffentlichkeit, auch wenn die WM vorbei ist.
Ihnen ist es beispielsweise noch nicht erlaubt, die Einhaltung der Sommerhitzepausen auf anderen Baustellen zu überprüfen, obwohl diese eigentlich für alle Bauarbeiter gelten. «Da hoffen wir, dass wir das künftig mit dem Arbeitsministerium zusammen durchsetzen können», sagt Rita Schiavi.
Es brauche genügend Inspektoren und Inspektorinnen, die die Baustellen regelmässig besuchen und das Beschwerdesystem müsse schnell und richtig implementiert werden. Garantien dafür haben die Gewerkschaften nicht.
«Wir haben auch Angst, dass das rückgängig gemacht werden könnte», sagt Schiavi. Für die nächsten zwei Jahre gilt das Abkommen mit dem Arbeitsministerium noch – ob die Zusammenarbeit darüber hinausgeht, kann heute niemand garantieren.
Darum hoffen die Gewerkschaften auf die Öffentlichkeit. «Wir hoffen, dass es weitergeht, und zählen auf den Druck der Öffentlichkeit, auch wenn die WM vorbei ist».
Auch die Zukunft des von den Gewerkschaften geforderten und von der katarischen Regierung eingeführten Entschädigungsfonds für ausstehende Lohnzahlungen ist ungewiss.
Die Arbeiter wissen nicht, wo sie Hilfe bekommen können.
Der Staat zieht diese Löhne nachher bei den Arbeitgebenden ein. Falls das nicht geht, bezahlt der Staat. «Doch die Arbeiter können das nicht durchsetzen, weil sie nicht wissen, wo sie Hilfe bekommen», erklärt Schiavi.
Darum ist für die Gewerkschaften die Forderung nach einem sogenannten Workers-Center wichtig: «Eine Anlaufstelle, die Arbeiter juristisch berät und vertritt. Das muss gratis sein. Denn ein Arbeiter kann es sich nicht leisten, einen Anwalt zu bezahlen».
Ein Entschädigungsfonds für verunfallte Arbeiter?
Beobachter fordern zusätzlich einen Fonds für verunfallte Arbeiterinnen und Arbeiter. Rita Schiavi: «Das ist eine Forderung, die wir an die FIFA gestellt haben, zusammen mit Amnesty International und andern NGOs. Ich weiss nicht, ob das zustande kommt, aber es gibt einen Entschädigungsfonds, den der Staat eingerichtet hat. Für mich ist zweitrangig, ob die FIFA zahlt oder der Staat».
Wichtig wäre für Rita Schiavi, dass diese Entschädigungen schnell bezahlt werden oder ein Versicherungssystem eingeführt wird. Es gibt bereits Firmen, die bezahlen, wenn ihre Arbeitnehmenden verunglücken. Aber das gilt nicht für alle.
Weiter fordert Schiavi eine Invalidenversicherung: «Das wäre wichtig, damit die Familien von verunfallten oder verstorbenen Arbeiter im Heimatland finanziell abgesichert wären. Der Staat Katar kann sich das leisten».
Schiavi betont: «Für uns wäre es wichtiger, dass FIFA das Workers-Center bezahlt, denn dort wollen wir nicht vom Staat abhängig sein. Das soll Geld sein, das den Arbeitern gegeben wird, damit sie sich selbst organisieren können und solche Beratungsstellen aufbauen».