1995 hat Jürg Läderach mit Weggefährten den «Hof Oberkirch» im sankt-gallischen Kaltbrunn übernommen und sich dort eine eigene evangelikale Welt erschaffen: eine Freikirche und eine christliche Privatschule mit Internat.
Die Kinder sollen zur «Ehrfurcht vor dem dreieinigen Gott erzogen werden» hiess es damals, und auch heute noch steht es in den Statuten so geschrieben. Aktuell besuchen 48 Kinder die Schule.
Dass die Kinder streng religiös erzogen wurden, war bekannt. Dass sie mutmasslich auch gezüchtigt wurden, darüber wurde in der Öffentlichkeit immer wieder spekuliert.
Als dies 1999 ein Aussteiger der Behörde meldete, klärte der Kanton St. Gallen als Aufsichtsbehörde umfassend ab. Ergebnislos, wie Jürg Raschle, Generalsekretär vom Bildungsdepartement, gegenüber SRF sagt.
Er war damals im Rechtsdienst und erinnert sich: «Es hatten alle Zweifel, aber man ist ihnen nie auf die Schliche gekommen.»
Der Behörde fehlten Aussagen von Betroffenen. Stattdessen schrieben die Eltern an die Behörde und setzten sich für die Schule ein. Die Kinder würden sie lieben und auch sie selbst den Lehrern 100 Prozent vertrauen.
«Wenn man damals die Belege gehabt hätte, wie heute mit den Aussagen von Ehemaligen, dann wären wir sicher eingeschritten», sagt Jürg Raschle.
Schläge und Schlagrituale
Vor rund zweieinhalb Jahren begann «SRF DOK» mit den Recherchen. Ehemalige hatten sich gemeldet und wollten über ihr Schicksal berichten.
Kurz darauf gab die Schule selbst einen Bericht in Auftrag. 58 Ehemalige sagten aus, vieles deckt sich mit den Aussagen von Betroffenen, die gegenüber SRF gemacht wurden.
Im Bericht ist von Schlägen aller Art die Rede, von Schlagritualen, davon, dass sich die Kinder dabei nackt oder halbnackt ausziehen mussten.
Es kam mutmasslich zu Missbrauch und sexuellen Grenzüberschreitungen, heisst es im Bericht. Im Bericht haben die Betroffenen anonym ausgesagt, im «SRF DOK» reden sie erstmals offen darüber.
Schläge hätten einfach dazugehört, sagt Anita H., die von 1998 bis 2007 die Schule besucht hat. «Das haben alle gewusst, dass Kinder geschlagen werden. Das wurde auch gepredigt.»
Als Kind habe man gewusst, erzählt die ehemalige Schülerin E., wenn man während der Schläge still sei, keinen Ton von sich gebe, «dann ist es nach 3 bis 4 Schlägen vorbei. Wenn man jedoch aufbegehrt, dann wird man geschlagen, bis man ruhig ist».
Mit Gurt geschlagen
Joel W. wurde mit einem Gurt geschlagen. «Man musste sich übers Bett bücken, die Hose herunterlassen und dann gab es Schläge. Ich habe jeweils versucht, mich aus dem Körper zu mogeln, damit man nichts mehr spürt. Denn es hat nicht aufgehört nach zwei, drei Schlägen. Es ging immer weiter und weiter.»
Joel W. war elf Jahre auf dem «Hof Oberkirch» – vom Kindergarten bis zur Oberstufe.
Er sei täglich geschlagen worden, sagt Michael B. und dies mit allen möglichen Gegenständen, «meistens aber mit dem Gurt, den sie getragen haben».
Joel W. erzählt, dass er vor allem vom damaligen Schulleiter und Prediger der Schule geschlagen wurde. Und von dessen Frau Helga. Auch andere Mitglieder der religiösen Gemeinschaft haben mutmasslich geschlagen.
Er sei dabei gewesen, als Jürg Läderach seine Mitschüler mit seinem Gurt gezüchtigt habe, erzählt M., der anfangs 2000 auf dem «Hof Oberkirch» zur Schule ging.
«Wir mussten zuerst mit ihm beten, und dann hat er die Kinder mit seinem Gurt gezüchtigt. Meine Strafe war, dass ich zuschauen musste.»
«Ich habe nie geschlagen»
Jürg Läderach dementiert. In einer eidesstattlichen Erklärung lässt er notariell festhalten, dass er «niemals Schülerinnen oder Schüler geschlagen oder anderweitig misshandelt habe».
Er habe erst im Vorfeld der Untersuchung, die von der Schule gemacht wurde, davon erfahren. Er bedaure «aus tiefstem Herzen», was an der Schule passiert sei. «Wir hätten schon vor Jahren entschlossen handeln müssen.»
Jürg Läderach und die damals hauptsächlich Verantwortlichen haben sich in Briefen an die Betroffenen entschuldigt.
«Sie entschuldigen sich für etwas, was sie angeblich nicht gesehen haben, aber sie entschuldigen sich nicht dafür, dass sie es gemacht haben. Und sie haben mitgemacht, jeder Einzelne von ihnen», sagt die ehemalige Schülerin E.
Auch andere Betroffene, mit denen «SRF DOK» gesprochen hat, sagen: Von den Schlägen hätten alle gewusst.
Ehemalige Internatsleiterin gibt Schläge zu
Die meisten der mutmasslichen Taten sind verjährt und werden darum rechtlich nicht untersucht. Es gilt die Unschuldsvermutung. Vor der Kamera wollte von den damals Verantwortlichen niemand Stellung nehmen.
Einzig die damalige Internatsleiterin und Ehefrau des Pfarrers, Helga Koller, bekennt im «SRF DOK» offen, dass sie Kinder gezüchtigt habe. «Ich habe es gemacht, ich war in diesem System und habe es einfach gemacht.»
Sie könne das Leid, das auch sie verursacht habe, nicht ungeschehen machen, aber sie sei dankbar, dass auf diesem Weg eine Versöhnung möglich sei.
Läderach droht mit Anzeige
Jürg Läderach hat «SRF DOK» über seinen Vertreter mitgeteilt, wer künftig behaupte, er habe geschlagen, wer solche, aus seiner Sicht, unwahren Behauptungen aufstelle, werde angezeigt. Jürg Läderach hat denn auch eine Betroffene, die im Film zu Wort kommt, bereits im Vorfeld der Ausstrahlung angezeigt.
«Sie haben uns immer Angst machen können. Angst hat dazugehört. Und auch heute noch machen sie uns Angst», sagt M.
Das hat die Betroffenen jedoch nicht davon angehalten, im «DOK»-Film offen darüber zu reden, was sie damals erlebt haben.