Sie ist zierlich, um nicht zu sagen beinahe zerbrechlich, wie sie da vor uns sitzt und immer wieder nach einer Zigarette greift.
«Mit neun Jahren begann ich mit Rauchen. Um den Hunger zu vergessen. Das wirst du nicht so schnell wieder los.» Michelle Halbheer lacht leise und beugt den Kopf beinahe scheu nach vorne.
Was die heute 30-jährige Frau als Kind alles erlebt haben muss, sprengt das Vorstellungsvermögen. Ihre Mutter war heroinsüchtig und überliess das Mädchen immer wieder sich selbst. Hunger, Gewalt, Dreck, Verwahrlosung – mit all dem musste Michelle Halbheer bereits im Mädchenalter zu Recht kommen.
Sie wirkt völlig abgeklärt und ruhig. Beinahe unwirklich kommt es einem vor, wenn sie über all diese schrecklichen Dinge redet, die sie als Kind erlebt hat.
Nichts ist wichtiger als der Stoff
Drogen machen egoistisch. Das sagen die Süchtigen und das müssen ihre Angehörigen immer wieder schmerzhaft merken. Auch Michelle hat damit zu leben gelernt, dass sie bei ihrer Mutter nie an erster Stelle kam.
Und trotzdem meint sie: «Ich liebe meine Mami und behalte sie so in Erinnerung, wie ich sie als Kleinkind für kurze Zeit erleben durfte, ohne Drogen. Der süchtige Mensch ist nicht meine Mami, das ist eine andere.»
Verfilmung geplant
Sie brauche heute viel Zeit für sich. Rückzugsmöglichkeiten. Sonst verliere sie sich, erklärt sie uns. Auch nach Gesprächen, wie dem unseren, werde sie einen freien Tag zur Verarbeitung einplanen.
Von aussen betrachtet, hat es Michelle geschafft. Sie hat ihre Geschichte öffentlich gemacht und viel Betroffenheit ausgelöst. Ihr Buch «Platzspitzbaby» soll nun gar verfilmt werden. Und obwohl sie selbst auch schon Drogen ausprobiert hat, wurde sie nicht süchtig.
Kindern von Junkies eine Stimme geben
Nun will sie denen Gehör verschaffen, die aus ihrer Sicht noch immer viel zu wenig Beachtung erhalten: Den schätzungsweise 4000 Kindern von Drogensüchtigen, die in der Schweiz leben und einen schwierigen Start ins Leben haben.
Michelle ist eine Kämpferin. Das ist offensichtlich. Doch wie es in ihr drinnen tatsächlich aussieht, das verbirgt sie meisterhaft. So sehr sie andere beschützen will, ihre eigene Schutzbedürftigkeit mag sie nicht offenbaren.
Literatur zum Thema
«Platzspitzbaby» von Michelle Halbheer
«Ich verlor meine Mutter, erkannte in ihr den Menschen nicht mehr, dem ich als Zweijährige als Zeichen meiner ewigen Liebe ein selbst gepflücktes Blümlein überreicht hatte. Doch die Selbstzerstörung, der mangelnde Respekt dem eigenen Leben gegenüber, hatte den Tiefpunkt noch lange nicht erreicht. Im Nachhinein entpuppten sich diese frühen Jahre als harmloser Auftakt für alles, was noch kommen sollte.»
«Zürcher 'Needle-Park'» von Peter J. Grob
Ein Stück Drogengeschichte und -politik, 1968–2008. Von Peter J. Grob. Zwischen November 1988 und Februar 1992 wurden den Drogensüchtigen auf dem Zürcher Platzspitz über 7 Millionen Spritzen-und-Nadelsets und 2 Millionen Zusatznadeln abgegeben; es wurden medizinische Hilfeleistungen, darunter 6700 künstliche Beatmungen, durchgeführt. All dies war staatlich geduldet, obwohl 1975 das schweizerische Betäubungsmittelgesetz verschärft und Besitz und Konsum illegaler Drogen unter Strafe gestellt worden waren. Das Buch beschreibt das Alltagsleben auf dem Platzspitz, das breite Spektrum von Menschen, die sich dort aufhielten. Es erzählt vom Drogenhandel, den wissenschaftlichen Erkenntnissen und von den Reaktionen der Politik und der Medien. Im Schlussteil wird von der langsamen Abkehr von der Repression berichtet, von der Behandlung von Drogensüchtigen mit der Ersatzdroge Methadon und sogar mit Heroin, der Verbesserung der Überlebenshilfe, den politischen Auseinandersetzungen und schliesslich von der Annahme eines neuen Betäubungsmittelgesetzes durch das Stimmvolk im Jahr 2008.