Es ist eine unglaubliche Geschichte: Ohne Nazi-Chemiker wäre der grösste private Arbeitgeber des Kantons Graubünden, die Ems-Chemie, wohl nicht mehr da. Heute ist die Ems-Chemie Holding AG ein international erfolgreiches Unternehmen mit über 2800 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von über 2 Milliarden Franken. Geleitet von Magdalena Martullo-Blocher, Tochter des ehemaligen Firmenchefs und Besitzers, alt Bundesrat Christoph Blocher. Gegründet wurde das Werk unter dem Namen Hovag 1936 von Werner Oswald, der Mann, der später Christoph Blocher anstellte.
Treibstoff aus Holz als Benzinersatz
Die Hovag produzierte während des Zweiten Weltkriegs synthetischen Benzin-Ersatz aus Abfallholz. Für die Bündner Bevölkerung war das Werk «ein Geschenk des Himmels», sagt der pensionierte Ems-Chemiker Marcel Capaul. Sein Vater, ein Bündner Regierungsrat, war mitbeteiligt an der Gründung.
Der Benzinersatz war während den Kriegszeiten ein enorm gefragtes Produkt – unter anderem garantierte die Hovag, dass die Schweizer Luftwaffe überhaupt noch fliegen konnte. Deshalb finanzierte der Bundesrat denn auch mit öffentlichen Geldern den Bau des Treibstoffwerks.
Historikerin Regula Bochsler ordnet ein: «Man geht davon aus, dass im Krieg nur noch zehn Prozent der zuvor importierten Ware gekauft werden konnte. Das nationalsozialistische Deutschland nutzte die eingeschlossene Lage der Schweiz, um den Bundesrat unter Druck zu setzen.»
Nach Kriegsende stand die Hovag vor dem Aus
Ende des Zweiten Weltkriegs war die Hovag, die Vorgängerin der Ems-Chemie, der wichtigste und grösste Arbeitgeber des Kantons Graubünden. Doch die Schweiz brauchte jetzt keinen Treibstoff-Ersatz mehr, das billige Benzin konnte wieder importiert werden.
Hovag-Gründer Werner Oswald suchte nach Ersatzprodukten. Hilfe fand Oswald wiederum beim prominenten Sozialdemokraten Robert Grimm. Dieser vermittelte Oswald einen deutschen Chemiker. Sein Name: Johann Giesen.
Dr. Oswald wusste natürlich, dass er in Ems ohne die deutschen Entwickler nicht weiterkommt. Er musste bei der deutschen Spitzenchemie anklopfen.
Der Historiker Lukas Straumann hat für die sogenannte Bergier-Kommission, die Unabhängige Expertenkommission UEK, die Vorgänge untersucht. Straumann sagt: «Giesen war die zentrale Figur für die Umrüstung der Hovag von einem kriegswirtschaftlichen Triebstoffbetrieb in eine Kunststoffproduktion. Er war Forschungsleiter bei der Hovag, also der späteren Ems-Chemie. Bis 1970 blieb er im Verwaltungsrat. Ohne diese Umrüstung hätte die Ems-Chemie wohl nicht überlebt, so Straumann weiter.
Nazi-Chemiker bauen Kunstfaser-Produktion auf
Johann Giesen war während des Kriegs Direktor beim grössten deutschen Industrieunternehmen IG Farben. Unter anderem war er zuständig für die Kunstfaser-Produktion, dem sogenannten Perlon, ein ähnliches Produkt wie das amerikanische Nylon. Giesen brachte eine ganze Reihe von deutschen Chemikern nach Domat-Ems. Viele waren hochrangige NSDAP- oder SS-Mitglieder.
Christoph Blocher betont, dass er damals noch nicht bei der Ems-Chemie arbeitete: «Ich war erst Ende der 60er-Jahre dabei, da war der Krieg vorbei.» Er bestätigt, dass die Hovag Ende des Zweiten Weltkriegs deutsche Spezialisten anstellte: «Da sind ganze Reihen von ostdeutschen Chemikern gekommen. Die hatten natürlich alle eine nationalsozialistische Vergangenheit.»
Und er erklärt, dass Oswald nie eine nationalsozialistische Gesinnung hatte: «Das war etwas, das er innerlich sehr abgelehnt hat.» Aber ein Unternehmer müsse mit Leuten verschiedener Herkunft arbeiten können.
Das waren tüchtige Leute, nicht irgendwelche Dummköpfe, die das aufgebaut haben. Das waren sehr schlaue Leute, aber sie haben charakterlich versagt.
Diese Nazi-Chemiker halfen, die Hovag in ein modernes Chemiewerk umzuwandeln: Statt Benzinersatz produzierte Werner Oswald jetzt Kunstfasern. Er nannte sein Nylon-Produkt «Grilon», GR für Graubünden.
Insbesondere Giesen war ein Mann mit dunkler Vergangenheit. Laut Historiker Straumann hatte Giesen beim Aufbau der Methanol-Produktion im IG-Farbenwerk in Auschwitz die Federführung. «Und 1944, als ein anderer Direktor starb, hat er die Gesamtleitung der Treibstoffproduktion in Auschwitz verantwortet», so Straumann weiter.
Auschwitz-Monowitz: Industriekomplex und KZ
Der Industriekomplex Auschwitz-Monowitz wurde mit Zwangsarbeitern aufgebaut – die Arbeitsbedingungen waren grauenhaft, sagt die Historikerin Bettina Zeugin.
Verurteilter Kriegsverbrecher als Berater
Giesens Vorgesetzter hiess Heinrich Bütefisch, ein hohes SS-Mitglied. Heinrich Bütefisch wurde nach dem Krieg zu sechs Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt im Zusammenhang mit der Ausbeutung von KZ-Häftlingen und ausländischen Zwangsarbeitern. Historiker Straumann erinnert, dass Bütefisch einer der wenigen IG-Farben Konzernleitungsmitglieder war, die eine Haftstrafe erhielten. Andere wurden freigesprochen.
Auch Bütefisch kam später auf die Lohnliste von Werner Oswald. Die Unabhängige Expertenkommission UEK, die sogenannte Bergier-Kommission, recherchierte diese Zusammenhänge bereits Ende der 90er-Jahre.
Lukas Straumann fand im Archiv der Ems-Chemie die entsprechenden Dokumente: «Wir haben dann festgestellt, dass Oswald Briefkontakt hatte. Bütefisch hatte ein Beratungsmandat bei der Hovag. Man hat mit diesen Leuten gearbeitet, obwohl klar war, dass das verurteilte Kriegsverbrecher waren. Man ging davon aus, als er 1951 aus der Haft entlassen wurde, dass man ja jetzt wieder mit denen arbeiten kann.»
Diese Erkenntnisse der Bergier-Kommission blieben praktisch unbeachtet. Zudem unterstanden die Archivunterlagen der Bergier-Kommission einer Sperrfrist. SRF erwirkte die Freigabe – hier die Dokumente. Sie zeigen, dass Werner Oswald bis 1964 Kontakte mit dem ehemaligen SS-Sturmbannführer pflegte:
Archivunterlagen der Bergier-Kommission
Und SRF DOK fand im Bundesarchiv Bern auch Hinweise, dass der Sozialdemokrat Robert Grimm über Giesens dunkle Vergangenheit informiert war.
Hat Werner Oswald den Kontakt abgebrochen?
Christoph Blocher sagt, von Bütefisch habe er erst aus der Geschichtsliteratur erfahren. Er gehe davon aus, dass Oswald den Kontakt abgebrochen habe, nachdem er später, im Jahr 1964, von dessen Verurteilung erfahren habe: «Ich kann es nicht beweisen, weil ich nicht dabei war», sagt Blocher. Aber er gehe davon aus, denn Oswald habe Ende der 60er-Jahre gewarnt und gesagt, man müsse aufpassen mit dem Kontakt.
Antwort auf diese offene Frage könnte eventuell das Firmenarchiv der Ems-Chemie geben, wo die Korrespondenz Oswald-Bütefisch aufbewahrt ist. Doch Ems-Chemie verweigerte SRF den Einblick in diese Korrespondenz. Begründung: Die Bergier-Kommission habe diesen Bestand bereits gründlich analysiert.