SRF DOK: Sie leben selbst im Tessin. Das Verhältnis der Tessiner zu Fremden ist eher schwierig. Das zeigte sich am deutlichsten bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative: 68,2 Prozent Ja. Warum ist das so?
Patrik Soergel: Das Tessin ist ein Grenzgebiet und daher besonders mit dem Phänomen Einwanderung konfrontiert. Fast alle Personen aus meinem Bekanntenkreis haben ein Familienmitglied mit ausländischen Wurzeln. Da bildet meine Familie keine Ausnahme: Mein Vater ist deutscher Herkunft, meine Mutter ist Brasilianerin. In der Vergangenheit kamen die Einwanderer jedoch vor allem aus nahegelegenen Ländern, deren Kultur mit der unsrigen vergleichbar ist. Die Einwanderung aus Afrika und Westasien ist eine jüngere und heikle Erscheinung.
Irgendwann war auch ich nicht mehr bloss der 'Südamerikaner'.
In einer Zeit, in der der durchschnittliche Tessiner Bürger mit seinen eigenen Unsicherheiten und Ungewissheiten mit Blick auf seine Zukunft zu kämpfen hat, haben sich die Ängste gegenüber Fremden verstärkt. Doch ich bin zuversichtlich, dass wir mit der Zeit lernen, die Anwesenheit der hier lebenden Ausländer objektiver und reifer zu beurteilen. Ich selbst bin Doppelbürger. Ich besitze die schweizerische und brasilianische Staatsbürgerschaft. Leider erlebte auch ich aufgrund meines fernen Ursprungs Vorurteile und Diskriminierungen am eigenen Leib. Mit der Zeit wurden die Diskriminierungen aber weniger, weil die Menschen angefangen hatten, mich als Person wahrzunehmen und kennenzulernen. Ich war nicht mehr bloss der «Südamerikaner».
Sie haben für Ihren Dokumentarfilm «Willkommen in Losone» viel Zeit in Losone verbracht. Sowohl im Bundesasylzentrum als auch in der Gemeinde. Wo waren die Dreharbeiten schwieriger ?
Die Vorbereitung und das Aufbauen eines Vertrauensverhältnisses mit den Protagonisten waren die wesentlichen Faktoren, um diesen Film drehen zu können. Ferner das Wissen, dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) mir die Türen zum Zentrum öffnen und mir grösste Bewegungsfreiheit einräumen würde. Am Ende ist es mir gelungen, den Dokumentarfilm innerhalb von vier Monaten zu drehen. Ich drehte in zwei unterschiedlichen Welten: Im Zentrum mit denjenigen, die in einer Art Schwebezustand auf eine Antwort zu ihrem Schicksal warten und in Losone die Bürger, die ihrem Alltag nachgehen. Für mich war der emotional schwierigste Teil, das Leiden der wartenden Antragssteller mitzuerleben.
Was hat Sie persönlich während der Dreharbeiten am meisten beschäftigt?
Die Mehrheit der Personen, die in dem Zentrum um Asyl ersuchten, schienen mir anständige und ehrliche Menschen zu sein. Am Ende wird aber nur ein geringer Teil von ihnen in der Schweiz bleiben. Mich hat die Situation des Kommens und Gehens von Menschen, ihr Wartezustand, ihre Hilflosigkeit, berührt. Ausserdem war ich erstaunt zu sehen, wie unterschiedlich Menschen in einem so kleinen Gemeinschaftsumfeld wie in Losone sein können. Doch auch wenn die Meinungen zum Teil sehr unterschiedlich sind, sehe ich diese Vielfalt positiv. Es tut einer Demokratie und dem kritischen Geist eines Landes gewiss gut, bunt und wach zu sein.
Das Bundesasylzentrum ist ja bis Oktober befristet. Was passiert danach mit der ehemaligen Kaserne?
Die Gemeinde Losone hat die ehemalige Kaserne von der Eidgenossenschaft erworben. Ab 2019 wird es ein neues Zentrum für Asylbewerber im Tessin geben. In Losone munkelt man von Kontakten zwischen der Gemeindeverwaltung, Bern und dem Kanton Tessin. Es geht dabei um die Prüfung einer möglichen Verlängerung der Tätigkeit des Zentrums um zwei bis drei Jahre. Doch noch ist alles offen.
Wissen Sie, wie es den Protagonisten aus dem Film heute geht?
Allgemein gesprochen, geht das Leben der Losoneser seinen üblichen Gang. Eine grosse Veränderung erfahren die Asylbewerber, die in Losone nur auf der Durchreise sind. Maslah lebt heute im Kanton Glarus in einer Wohnung, die er sich mit anderen Antragstellern teilt. Er wartet die ganze Zeit über auf eine endgültige Antwort seitens des SEM. Er wartet seit einem Jahr. Ohne eine gültige Arbeitserlaubnis kann er nicht viel tun. In der Zwischenzeit verbringt er seine Tage mit der Verrichtung kleiner öffentlicher Arbeiten und dem Erlernen der deutschen Sprache.