Sarah Ketterer (12) ist «Young Carer» seit sie denken kann. Ihre Mutter Silvia leidet an rheumatoider Arthritis, auch Polyarthritis genannt. Sarah übernimmt viele Aufgaben im Haushalt, wäscht, kocht, kauft ein.
Wenn ein Krankheitsschub kommt, handelt Sarah wie eine ausgebildete Pflegefachfrau: Sie fordert Unterstützung für die Mutter an und ruft den Notarzt, weil in diesem Fall die akute Gefahr eines Herzstillstandes besteht. Diese ständige Sorge um die Mutter ist es, was Sarah als grösste Belastung in ihrer Rolle als junge Pflegende empfindet – während die Mithilfe im Haushalt längst zu ihrem Alltag geworden ist.
Kinder, die Angehörige pflegen, gab es schon immer
«Young Carer» – ein neuer Begriff für ein altes Phänomen. Denn Kinder und Jugendliche in der Pflegerolle gab es schon immer. «Young Carer» übernehmen regelmässig Pflegeaufgaben für ein physisch oder psychisch erkranktes Familienmitglied. Die Betreuung kann sich über Jahre hinziehen oder kurz und intensiv sein.
Meist ist die pflegebedürftige Person ein Elternteil mit einer chronischen, akuten oder einer psychischen Krankheit (50 Prozent). Junge Pflegende kümmern sich aber auch um Geschwister mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen oder um betagte Grosseltern.
Die übernommenen Aufgaben sind vielfältig und reichen von emotionalem Support, Arbeiten im Haushalt über die Begleitung der Erkrankten zu Arztterminen bis hin zu Körperpflege, Medikamentenabgabe oder dem Legen von Infusionen.
Voller Einsatz für die behinderten Brüder
Joël Fehrs Brüder Alain (17) und Olivier (10) haben beide das Down-Syndrom. Wenn zu Hause Not am Mann ist, übernimmt Joël (15) die Betreuung seiner beiden beeinträchtigten Brüder. Er hilft dem kleinen Olivier beim Essen, wechselt Windeln und bringt die beiden Brüder ins Bett, wenn die Eltern ausser Haus sind.
Wie Sarah ist auch Joël in seine Rolle hineingewachsen: Nicht Freiwilligkeit, sondern pure Notwendigkeit machte ihn – wie alle anderen Betroffenen – zum «Young Carer». «Unsere Familie befindet sich quasi auf einer ständigen Bergwanderung – alle müssen bis zum Gipfel mitgezogen werden», beschreibt Mutter Monique Fehr ihren Familienalltag.
Joël übernehme auf diesem Weg eine Leaderposition – er reisse mit seiner Hilfsbereitschaft und seiner positiven Lebenseinstellung alle mit, damit kein Familienmitglied auf der Strecke bleibt.
Trotz seiner Aufgaben zu Hause schafft es Joël, die Schule nicht zu vernachlässigen. Denn dort werden «Young Carer» oft durch sinkende Leistungen, häufiges Zuspätkommen oder Konzentrationsschwierigkeiten auffällig.
Im Klassenverband werden sie nicht selten Opfer von Mobbing, weil sie manchmal tatsächlich «anders» als ihr gleichaltrigen Kameraden sind: Sie nehmen keine Freunde mit zu sich nach Hause, haben wenig Zeit für die üblichen Freizeitaktivitäten oder müssen sich notgedrungen mit viel ernsteren Themen beschäftigen als ihre Klassenkameraden.
Schweigen aus Angst und Scham
Fakt ist: «Young Carer» pflegen meist im Verborgenen. Oft wissen nicht einmal die engsten Freunde, Lehrer oder Lehrmeister von den teils zeitintensiven Aufgaben der pflegenden Kinder und Jugendlichen.
Es ist einerseits die Scham darüber, dass im eigenen Elternhaus vieles anders läuft als bei ihren Schulkameraden, die «Young Carers» verstummen lässt.
Andererseits sind es oft auch die Eltern, welche den Kindern bewusst oder unbewusst ein Redeverbot auferlegen – aus Scham darüber, dem eigenen Kind so viel Verantwortung zu übertragen, aus Angst, als Eltern nicht zu genügen oder um eine Einmischung der Behörden zu verhindern.
Belastung bis an die äussersten Grenzen
Auch Anja (28) erklärte ihren Lehrern nicht, warum sie im Unterricht häufig müde und unkonzentriert war und ihre einst guten Leistung plötzlich absackten: Anjas Mutter war an Hepatitis C erkrankt, als Anja zwölf Jahre alt.
Die Verzweiflung über die unheilbare Krankheit, die Sorge um die drei Kinder, die physische und psychische Erschöpfung liessen Anjas Mutter in eine Depression fallen. Anja übernahm den Haushalt und die Betreuung ihrer jüngeren Schwester.
In Grossbritannien wird seit über 25 Jahren zum Thema «Young Carer» geforscht. Bis anhin nahm man an, dass in der Schweiz der Anteil der pflegenden und betreuenden Kinder bei ca. vier bis fünf Prozent liege – analog zu anderen Ländern, für die bereits Studien vorlagen.
Zwei grosse nationale Online-Befragungen liefern nun erstmals verlässliche Daten für die Schweiz: Es sind fast acht Prozent der Kinder und Jugendlichen, die Angehörige betreuen oder pflegen. Mädchen sind etwas stärker vertreten als Jungen.
Fachleute für die Thematik sensibilisieren
Ziel der Forschung ist es, Fachpersonen wie Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte und Pflegepersonal für die Thematik zu sensibilisieren. «Wenn sie den Begriff «Young Carer» zum ersten Mal hören, fällt es vielen Fachpersonen wie Schuppen von den Augen», sagt Agnes Leu, Leiterin des Forschungsprogramms «Young Carers».
In einem zweiten Schritt brauche es dringend politische und gesellschaftliche Massnahmen, damit pflegende Kinder und Jugendliche in Schule, Ausbildung und Beruf in Zukunft besser unterstützt werden können. Erklärtes Ziel von Agnes Leu und ihrem Team ist die Chancengleichheit für «Young Carer» in der Ausbildung.
Denn oftmals absolvieren die jungen Pflegenden andere Ausbildungen, als sie sich eigentlich wünschten: «Sie entscheiden sich oft für einen Ausbildungsplatz in der Nähe, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes lernen möchten», sagt Leu.
«Young Carer» sind sozialkompetent
Sinkende Schulleistungen, Müdigkeit, Konzentrationsschwächen fehlende soziale Kontakte und Freizeit sind nur die eine Seite der Medaille.
«Young Carer» weisen auf der anderen Seite eine sehr hohe Sozialkompetenz, Empathiefähigkeit und ein gutes Selbstwertgefühl aus und sind sich gewohnt, Verantwortung zu tragen. Das sagt Karin Gäumann-Felix, Dozentin an der Höheren Fachschule Pflege des Berufsbildungszentrums Olten. In ihrem Unterricht hat sie regelmässig mit jungen Pflegenden zu tun.
Denn überdurchschnittlich viele ehemalige und aktuelle «Young Carer» ergreifen einen Beruf im Pflegebereich. «Viele Betroffene merken erst im Rahmen der Ausbildung, dass sie selber «Young Carer» sind oder waren und fangen dann an, über das Tabuthema zu reden» – diese Erfahrung hat Karin Gäumann-Felix schon oft gemacht.
Auch Anja hat nach ihrer Floristinnenlehre eine Ausbildung zur Pflegefachfrau, Schwerpunkt Psychiatrie, absolviert. «In Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, verstehe ich meine Patientinnen und Patienten wahrscheinlich besser, weil ich ähnliches erlebt habe», sagt Anja.
Obwohl sie schlussendlich an ihrer Aufgabe gewachsen sei, rät sie Eltern von «Young Carern», ihren Kindern nicht zu viel zuzumuten.