1931 wurde aus der früheren Knabenerziehungsanstalt Sonvilier ein Versorgungsheim für «bösartige» Pfleglinge. Die damaligen Berner Armenanstalten waren überfüllt und deshalb sollten die besonders «Bösartigen» zuhinterst in diesem Juratal versorgt werden. «Trunksucht», «Liederlichkeit», «Arbeitsscheue» oder auch bloss Gebrechlichkeit (und damit Untauglichkeit für die tägliche Arbeit) waren die Gründe für die unfreiwillige Reise nach Sonvilier.
Als das Ehepaar Renate und Peter Gäumann vor 26 Jahren die Leitung in Sonvilier übernommen hat, standen im Keller noch Käfige zur Verfügung, um besonders Renitente oder Betrunkene vorübergehend wegzusperren. Die Gäumanns haben damit aufgeräumt und auch sonst Ideen entwickelt, die anfänglich auf viel Kritik und Ablehnung stiessen: Die alkoholkranken Bewohner, die als austherapiert gelten, sollten in einem kontrollierten Rahmen Alkohol trinken können. Und es sollten nicht mehr nur Männer, sondern auch Frauen in Sonvilier Aufnahme finden. Sodom und Gomorrha!
Geschlechterdurchmischte Gruppen
Das Konzept weckte zu Beginn einigen moralischen Argwohn. Doch die Realität ist eine andere: Die Anwesenheit von Frauen habe auch eine dämpfende Wirkung auf Konflikte und Gewalt, dies die Erfahrung von Peter Gäumann. Hört man sich die bewegten Lebensgeschichten der Menschen von Sonvilier an, wird einem klar, wieviel Konfliktpotenzial in dieser Siedlung versammelt ist – und man ist erstaunt, wie unaufgeregt das Leben dort üblicherweise vonstatten geht.
Heimat für Gestrauchelte
Jetzt leben 100 Männer und Frauen dort, einige schon über 40 Jahre, Durchschnittsalter knapp 60 Jahre. Die meisten gelangten durch eine «Fürsorgerische Unterbringung» hierher, früher hiess das «Fürsorgerischer Freiheitsentzug», was schlimmer tönte, aber das gleiche war: eine drastische Zwangsmassnahme, behördlich verfügt wegen Eigen- und/oder Fremdgefährdung, wegen Verwahrlosung.
Das Heim, eigentlich ein kleines Dorf, ist sowohl ein grosser Bauernhof mit Selbstversorgung als auch ein vielgestaltiger Handwerksbetrieb, der zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten bietet. Die Arbeit ist freiwillig, doch die Mehrheit der Pensionäre packt irgendwo mit an – gegen ein Taschengeld, das auch den Kauf von Alkohol und Zigaretten ermöglicht.
Die richtige Medikation fördert Lebensqualität
60 Mitarbeiter halten den Grossbetrieb am Laufen. Sie unterscheiden sich von den Bewohnern dadurch, dass sie sich doppelt so schnell bewegen. Die Medikamente! Diese machen die Pensionäre nicht gerade munter, doch sie ermöglichen erst, dass sich hier überhaupt so etwas wie ein soziales Leben ergeben kann.
Als die Landschaftsgärtnerin Monika Gerlach aus Berlin hierher zog, um die Leitung der Landwirtschaftsbetriebe zu übernehmen, war sie sehr skeptisch gegenüber dieser Medikamentenabgabe: «Ich habe gedacht, Psychopharmaka, es gibt nichts Schlimmeres, Pharma-Mafia und so. Doch nun muss ich sagen, die Medikamente helfen den Leuten wirklich, wenn sie richtig eingestellt sind. Sie fördern die Lebensqualität, lindern starke Depressionen und verhindern so, dass die Leute sozial isoliert sind.»
Wer weiss schon, wie er aus einer existentiellen Krise herausfinden würde?
Ein Ferienlager für Trinker? Sozialwahnsinn gar? Sonvilier kann kaum Anlass bieten, für solcherart modische Empörung. 150 Franken beträgt die Tagespauschale, ein Bruchteil dessen, was etwa eine psychiatrische Klinik kosten würde. Günstiger kann diese Dienstleistung, die auch vor allem eine Dienstleistung zugunsten der Gesellschaft ist, kaum erbracht werden. Und beglichen werden diese Kosten hauptsächlich aus den IV- und AHV-Renten der Pensionäre.
Wer weiss schon, wie er aus einer existentiellen Krise herausfinden würde? Reichten ihm Medikamente dazu – oder würde er in seiner Verzweiflung auch zu Alkohol greifen? So wie es der junge Banker, der 69-jährige Unternehmer oder der Organist, drei Bewohner von Sonvilier taten. Denn Alkohol verschafft im dunklen Loch die schöneren Farben als Medikamente – nur lässt er einen dann ein Leben lang nicht mehr los.