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Das Handy isst mit
Aus DOK vom 11.01.2018.
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Ernährung in der Schweiz «Die Verunsicherung ist riesig»

Ersatzreligion Essen: Warum hat unsere Ernährung eine so grosse Bedeutung und weshalb nehmen Essstörungen zu? Ein Interview mit Ernährungswissenschaftlerin Marianne Botta.

Zur Person

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Ernährungswissenschaftlerin Marianne Botta ist selbst Mutter von 8 Kindern. Bei ihrer Arbeit als Ernährungsberaterin begegnen ihr zunehmend Jugendliche mit Essstörungen.

SRF DOK: Warum dreht sich heute so Vieles ums Essen?

Marianne Botta: Weil man einerseits die Bedeutung des Essens und den Einfluss auf die Gesundheit und Schönheit erkannt hat, die Wissenschaft hat in den letzten Jahren tatsächlich viele Zusammenhänge zwischen der Ernährung und dem Wohlbefinden beweisen können. Andererseits hat es mit dem Luxus, in dem wir leben zu tun. Früher ging es ums nackte Überleben, Hauptsache war, dass der Kalorienbedarf gedeckt werden konnte. Daran denken wir heute gar nicht mehr.

Wird Ernährung zur Ersatzreligion?

Das ist persönlichkeitsabhängig, tendenziell aber schon, denn überall wo die Menschen das Gefühl haben, es gäbe klare Regeln, die ihnen Halt geben, stützen sie sich auf diese ab. Heute wird in den Medien bezüglich Ernährung vermittelt, es gebe solche Regeln und wenn man sich daran halte, bleibe man gesund. Menschen wollen solche Regeln in allen Lebensbereichen und versprechen sich davon auch eine gewisse Kontrolle übers Leben. Hier besteht ein Vakuum, welches manche Menschen tatsächlich mit fast religiösem Eifer zu füllen versuchen, indem sie sich ganz strikt an einen Essensplan halten. Schon früher galt ja der Satz: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

Warum nehmen parallel zum Trend sich gesund zu ernähren die Essstörungen zu?

Die Verunsicherung ist riesig, was auch damit zusammenhängt, dass Ernährung keine exakte Wissenschaft ist. Der Druck gut auszusehen, ist ebenfalls sehr gross, mit Essen und Sport kann man diesbezüglich etwas erreichen. Zudem haben wir heute die Zeit und den Luxus, uns überhaupt extensiv damit zu befassen. In Drittweltländern gibt es dieses Problem nicht. Zudem sind wir zu einer narzisstischen Gesellschaft geworden, wo sich jeder nur um sich selbst dreht. Medien, vor allem auch Social Media verstärken diese Tendenz. Die meisten Menschen überlegen sich ja nicht, wie kann ich den Menschen in Afrika helfen, sondern sie überlegen sich wie kann ich möglichst gut aussehen und wirken.

Fotoshooting für ein Brot
Legende: Foodblogging Essen – inszeniert für Social Media Keystone

Was bedeutet Essen als Lifestyle und Ersatzreligion für Kinder und Jugendliche?

Kinder orientieren sich am meisten an den Eltern und ihren engsten Bezugspersonen. Sobald sie in die Pubertät kommen, werden Peergroups wichtiger, sie orientieren sich an gleichaltrigen Vorbildern, und dort spielt heute Social Media eine grosse Rolle. Der Einfluss der Gleichaltrigen nimmt über Social Media massiv zu, denn hier gibt es geographisch keine Grenzen mehr. Früher waren die Vorbilder im Dorf. Heute sind sie überall auf der ganzen Welt.

Wie beeinflussen Foodblogger das Ernährungsverhalten?

Ich denke, Foodblogger sind Vorbilder wie Popstars, sie geben jungen Menschen neue Ideen und können auch positven Einfluss haben, wenn sie einen gesunden Umgang haben mit ihrem eigenen Körper. Das ermuntert viele, neue Lebensmittel auszuprobieren und die Freude am Kochen zu entdecken. Es gibt aber wie überall gute und schlechte Vorbilder. Magersüchtige, die bloggen, verschärfen bei gefährdeten Jugendlichen die Probleme und wirken wie Brandbeschleuniger, weil sie dort auf Ideen kommen, die sie sonst nicht gehabt hätten und die ihrer Gesundheit noch mehr schaden.

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«Das Gefühl von Akzeptanz ist so schön»
Aus DOK vom 11.01.2018.
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Warum treten denn Essstörungen vorwiegend im Jugendalter auf?

Weil es dort vor allem darum geht, sich selbst zu finden. In der Pubertät steht die Frage im Zentrum, wer bin ich und wie wirke ich auf andere. Das ist eine wichtige und normale Frage in dieser Zeit. Heute ist das verschärft, weil auf Social Media sehr viel über das Optische läuft. Man sieht, wie man aussehen sollte, wer viele Likes bekommt, wird zum Vorbild, Jugendliche möchten auch beliebt sein und tun alles, um möglichst nahe an ihre Vorbilder heranzukommen. Sie sehen in Talentshows zudem, dass die Begabung allein nicht mehr reicht, wenn das Aussehen nicht stimmt. Das Ziel gut auszusehen und dies mit allen Mitteln zu erreichen wird immer wichtiger, und zu diesen Mitteln gehört die Ernährung.

Zu Bulimie, Anorexie und Adipositas gesellt sich neu die Orthorexie. Was ist das genau?

Orthorexie ist die Sucht, sich mehrere Stunden pro Tag mit Ernährung auseinanderzusetzen ohne damit Geld zu verdienen. Diese neue Erkrankung ist eine Folge der Frage, wie optimiere ich mein Aussehen oder meine Gesundheit. Darum handelt es sich um eine narzisstische Störung: Man hat nur noch seine eigenen Bedürfnisse im Blick. Orthorexie hat zudem sehr viel damit zu tun, dass man den Genuss verlernt hat. Der Zugang zu den eigenen Emotionen ist gestört, denn Regeln und deren Einhaltung werden vom Kopf diktiert.

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«Nüsse, schwarze Schokolade, Ingwertee, Kaffee»
Aus DOK vom 11.01.2018.
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Was sagen die neuen Essgepflogenheiten über unsere Gesellschaft aus?

Sie machen sichtbar, dass die Gesellschaft zunehmend narzisstisch wird und dass innere Werte abnehmen und äussere Werte wichtiger werden. Der Hype um neue Nahrungsmittel zeigt, dass wir Zeit haben und es uns leisten können, uns damit zu beschäftigen. Aber neue Lebensmittel waren eigentlich schon immer interessant.

Das ist nicht nur schlecht, mit importierten Produkten wie Orangen, Kartoffeln, Tomaten oder Reis haben wir unser Ernährungsqualität im 19. Jahrhundert in der Tat massiv steigern können. Andererseits sind die vielen Importe ein ökologisches Problem und wir verlieren den Bezug zum Nahrungsmittel, zur Nahrungsmittelherkunft und zu den eigenen Körpersignalen, wenn alles jederzeit erhältlich ist. Es wäre auch Selbstoptimierung, wenn man wieder einmal auf sich hören würde, statt nur zu schauen, was andere gut finden. Früher hatte man, was man hatte und hat aufgehört zu essen, wenn man satt war, das funktioniert heute nicht mehr.

Wie schwierig oder einfach ist es, Essgewohnheiten zu ändern?

Das ist sehr schwierig, denn das Essverhalten wird in der Kindheit vorgelebt, Lebensmittelvorlieben werden dort geprägt. Ob Essen Trost oder Belohnung ist, lernt man als Kind. Essstörungen werden häufig chronisch, weil sie in «Fleisch und Blut» übergegangen sind. Von Magersüchtigen weiss man, dass ihnen die Kontrolle übers Essen einen Halt gibt und das Gefühl vermittelt, sie hätten das Leben unter Kontrolle. Diese Haltung müssen Betroffene zuerst erkennen und bereit sein sie zu ändern.

«DOK» am Donnerstag

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Legende: Colourbox

«Ernährungswahn – Zwischen Gesundheit und Obsession», Donnerstag, 11. Januar 2018, 20:05 Uhr, SRF1.

Welche Rolle spielt die Nahrungsmittelindustrie?

Eigentlich keine grosse Rolle, ausser dass sie den Trends nachgeht und versucht, neu auftretende Bedürfnisse zu decken. Das sieht man zum Beispiel bei der veganen Ernährung, daran haben die Fleisch- und Milchprodukteindustrie gar keine Freude, aber sie können den Trend trotzdem nicht stoppen. Genau das Gleiche gilt für die Bäckereien, die schlechtere Geschäfte machen, wenn die Leute Lowcarb-Diäten machen und keine Kohlehydrate mehr essen. Hätten sich diese Industrien früher mit den Trends auseinandergesetzt, hätten wir heute viel bessere Produkte auf dem Markt.

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