SRF DOK: Welche Reaktionen hat Ihr Film «Freiwild – Tatort Universität» über Vergewaltigungen an Universitäten ausgelöst, als er in den USA herauskam?
Kirby Dick: Es war wie ein Erdbeben. Wir zeigten den Film über 2000 Mal an US-Unis und konnten damit Reformen an hunderten von Unis und Colleges beeinflussen. Die aktuellen Studentenproteste und unser Film haben einen Wandel in der amerikanischen Wahrnehmung ausgelöst: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes wird die Verantwortung endlich den Tätern angelastet und nicht mehr den Opfern!
Im Film sehen wir die beiden Vergewaltigungsopfer Andrea Pino und Annie Clark, wie sie anderen Studentinnen helfen, gegen ihre Vergewaltiger vorzugehen und auch gegen die Unis, die alles unter den Teppich kehren wollen. Wie geht es den beiden jungen Frauen heute?
Andrea und Annie kämpfen mit ihrer Organisation EROC (End Rape on Campus) weiter dafür, dass Vergewaltigungen an den Universitäten im ganzen Land aufhören. Kürzlich erst haben sie sich mit der «Dear Betsy Campaign» an Betsy DeVos gewandt und von ihr verlangt, sie müsse eine sichere Lernumgebung für Studentinnen gewährleisten.
Betsy DeVos ist die Bildungsministerin von Präsident Trump. Der ehemalige Präsident Barack Obama hat sich selbst sehr stark für dieses Thema eingesetzt, wie man im Film sieht. Hat sich seit der Übernahme von Präsident Trump etwas verändert?
Es ist wohl noch zu früh zu sagen, ob sich etwas verändert hat. Die Angst ist einfach gross, dass Trump die Reformen von Obama rückgängig macht, was einen grossen Rückschritt bedeuten würde. Die Unis könnten die Unterstützung für die Opfer wieder stoppen, die Vergewaltigungen würden nicht mehr geahndet, Täter nicht bestraft – und dann wären wir wieder an dem Punkt, wo die Behörden die Taten decken oder vertuschen.
Sie thematisieren in ihrem Film auch einen Fall, der hohe Wellen schlug: Erica Kinsman, die den Quaterback Jameis Winston der Vergewaltigung beschuldigt. Sie hat ihn sowie die Florida State University, an der die beiden studierten, angeklagt. Was hat sich in diesem Fall getan, seit Sie die Dreharbeiten beendet haben?
Im Januar 2016 erklärte sich die Florida State University bereit, Erica Kinsman in einem Vergleich 950‘000 Dollar zu zahlen. Ausserdem musste sich die Uni verpflichten, ein fünfjähriges Präventionsprogramm gegen sexuelle Gewalt an der Uni durchzuführen. Es ist die bisher höchste Summe, die je in einem Vergleich gegen eine Uni wegen Vergewaltigung gesprochen wurde. Gegen Jameis Winston lag noch eine zweite Anklage einer anderen Studentin vor. Er einigte sich mit Kinsman in einem Vergleich, ohne eine Schuld einzugestehen.
Was wurde an den Unis inzwischen konkret unternommen?
Einige Staaten leiten nun Gesetzesreformen ein. In New York zum Beispiel müssen die Unis den so genannten «Affirmative Consent Standard» einführen – da wird den Studenten klar gemacht, dass Sex nur nach einem klaren Ja des Gegenübers stattfinden darf. Ausserdem erhalten Studentinnen, die eine Vergewaltigung melden, Immunität.
Ein Anfang. Aber was müsste sich Ihrer Meinung nach noch ändern?
Die sexuellen Übergriffe müssen besser untersucht und auch gerichtlich beurteilt werden! Es reicht nicht, dass solche Vorfälle nur von der Unileitung beurteilt werden. So könnte man auch verhindern, dass Wiederholungstäter immer wieder vergewaltigen können. Die müssten von der Uni verwiesen werden. Solange dies nicht geschieht, wird die enorme Zahl von sexuellen Übergriffen nicht zurückgehen.
Studenten – Männer und Frauen (!) – müssen lernen, dass es ein Ja des Gegenübers braucht für Sex! Das müssten schon die Schüler in der Grundschule lernen.
Uni-Rektoren sollten das Problem an ihrem Campus anerkennen, öffentlich über die Problematik reden und sich bei den tausenden Opfern entschuldigen, die über die Jahre hinweg auf ihrem Campus vergewaltigt worden sind. Sie sollten Führungsstärke zeigen, eine Veränderung anstreben und die Verantwortung übernehmen, wenn keine Veränderung zustande kommt.
Was empört Sie am meisten?
Es geht immer noch die Mär um, die Zahl von falschen Anschuldigungen sei hoch. Das stimmt einfach nicht. Studien belegen, dass höchstens zwei bis acht Prozent der Berichte über Vergewaltigungen falsch sind, und das bedeutet, dass fast alle Berichte wahr sind.
Sehr verstörend finde ich auch, dass so viele Unis und Colleges zögern, ihre Studentinnen – und übrigens auch Studenten – besser zu schützen. Sexuelle Gewalt ist ein soziales Problem, das von den Institutionen, in denen sie stattfinden angegangen werden müsste – die Institutionen müssten die Verantwortung übernehmen. Es ist mir ein Rätsel, weshalb so viele Unis dies immer noch nicht tun.
Das Thema sexuelle Gewalt lässt Sie nicht los, scheint es. «Freiwild – Tatort Universität» ist nach Ihrem ersten Film «Der unsichtbare Krieg» bereits Ihr zweiter Film über systematische Vergewaltigungen. Wie kam es dazu?
Die Produzentin Amy Ziering und ich tourten mit unserem Film «Der unsichtbare Krieg» über systematische Vergewaltigungen in der US-Armee durch die US-Unis. Bei jeder Vorführung kamen Studentinnen zu uns, die uns sagten, dass Vergewaltigungen an ihrer Uni auch an der Tagesordnung seien.
«Das ist mir auch passiert», war der häufigste Satz, den wir an diesen Vorführungen hörten. Wir begannen zu recherchieren und entdeckten, wie allgegenwärtig dieses Problem an den Unis ist. Also legten wir den Film, an dem wir damals gerade arbeiteten, beiseite und widmeten uns voll dem Thema.
Ihr Film «Freiwild – Tatort Universität» oder «Hunting Ground» wie er im Original heisst, war 2016 in verschiedenen Kategorien für einen Oscar nominiert, unter anderem für den besten Dokumentarfilm. Gewonnen hat der Film in der Kategorie «Bester Filmsong».
Ja, mit dem Song von Lady Gaga «Til it happens to you». Lady Gaga erzählte uns, dass sie ebenfalls Opfer von sexueller Gewalt war. Kurz darauf präsentierte sie den Song bei der Oscarverleihung, begleitet von 50 Vergewaltigungsopfern, darunter viele Frauen, die auch im Film vorkommen. Dieser Auftritt war einer der Höhepunkte der Oscars, das Publikum reagierte mit Standing Ovations.