50 Jahre ist es her, dass Andrée Valentin den Mund aufmachte. Immer wieder, laut und ohne Kompromisse. Ihr Thema: die Gleichstellung der Frauen. Sie hatten 1968 weder eine politische Stimme noch durften sie ohne Erlaubnis des Ehemannes arbeiten.
Im Historischen Museum in Bern begibt sich die heute 74-Jährige in der Ausstellung «Schweiz 1968» auf Zeitreise und trifft auf die junge Feministin und Präsidentin der Jungsozialisten Schweiz Tamara Funiciello.
Andrée Valentin: Toll, das alles zu sehen! Diese Energie, diese Begeisterung und diese Intensität – Wir haben daran geglaubt!
Tamara Funiciello: Woran habt ihr geglaubt?
Andrée Valentin: Na, an die Revolution! Wir waren überzeugt, dass wir jetzt die Revolution anfangen. Und zwar nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt sofort!
Die beiden betreten einen Raum, der eingerichtet ist wie in den 60er-Jahren: mit ockerfarbenem Sofa, Schrankwand und einem alten Schwarz-weiss-Fernseher. An der Wand hängt ein Plakat zum Thema Frauenstimmrecht. Es zeigt, dass in den 60er-Jahren in fast jedem europäischen Land Frauen abstimmen dürfen – fast.
Tamara Funiciello: Du konntest gar nicht wählen, stimmt’s?
Andrée Valentin: Nein, ich konnte nicht wählen. Wir haben deshalb 1968 im Schauspielhaus eine Aktion gemacht. Der Verband fürs Frauenstimmrecht hat dort sein 75-Jahr-Jubiläum gefeiert.
Wir fanden: Das Stimmrecht ist ein Menschenrecht, aber unsere Forderungen sind viel weiter gegangen. Wir haben die Jubiläumsfeier gestört, indem ich auf die Bühne gegangen bin und eine Rede gehalten habe, eine Brandrede, die wir am Abend vorher vorbereitet haben. Es ging um Frauen und um das, was Frauen eigentlich wollen.
Tamara Funiciello: Und wie haben sie reagiert?
Andrée Valentin: Das war ein absoluter Skandal! Sie haben erst gar nicht verstanden, was los ist. Dann hat das Orchester eingesetzt, und sie haben mich unterbrochen. Mein Vater ist Tonhalle-Musiker gewesen, aber er war gottlob nicht auf der Bühne! Dann ist die Veranstaltung weitergegangen. Und am Schluss bin ich wieder auf die Bühne und wir haben angefangen zu diskutieren.
Der nächste Ausstellungsraum zeigt als Erstes ein Ereignis, das die Jugend weltweit aufgerüttelt hat: der Vietnamkrieg.
Andrée Valentin: Ho Ho Ho Chi Minh! Ich denke, dass wir ohne das, was der Vietnamkrieg bei unserer Jugend ausgelöst hat, nicht diese Bewegung gehabt hätten. Das war wirklich ein wahnsinnig wichtiger Moment.
Tamara Funiciello: So etwas fehlt unserer Zeit vielleicht auch. Ich meine, der Syrienkrieg hat nicht zu dieser Reaktion geführt.
Andrée Valentin: Genau das wollte ich dich fragen: Was ist eigentlich mit dem Syrienkrieg? Das ist so ein grauenhafter Krieg, wenn ich die Bilder sehe, bricht es mir das Herz, und ich fühle mich total hilflos. Ich frage mich: Warum hat es überhaupt keine Mobilisierung gegeben?
Tamara Funiciello: Ich glaube nicht, dass es keine Mobilisierung gegeben hat. Ganz viele Leute haben gehandelt, aber sehr individuell. So viele setzen sich für Flüchtende ein; sie nehmen sich Zeit und gehen auf eigene Kosten nach Griechenland, um Unterstützung zu leisten. Aber unser Problem ist: Natürlich gehen wir demonstrieren, natürlich machen wir das! Aber viele haben das Gefühl, es nützt einfach nichts mehr.
Deshalb finde ich es so schön, dass wir hier sind, weil man eben aufzeigt: Es hat etwas bewegt. Es hat etwas bewegt! Das darf man nicht vergessen, und dort müssen wir wieder hinkommen.
Eine Ecke der Haupthalle ist der Frauenbewegung gewidmet. Andrée Valentin entdeckt sich selbst auf einem Foto. Sie trägt, wie immer zu jener Zeit, eine grosse Eulenbrille und ist am Mikrofon zu sehen.
Andrée Valentin: Ich glaube, ich habe damals genau aus dem gleichen Grund dort gestanden mit dem Mikrofon wie du heute – nur unter anderen Bedingungen. Ich wollte, dass die Frauen die gleichen gesellschaftlichen Möglichkeiten haben wie die Männer, aber nicht unbedingt, dass sie es den Männern nachmachen, sondern, dass sie ihre frauenspezifischen Anliegen wirklich einbringen können und auch gehört werden!
Wir Frauen mussten uns selbst organisieren und wirklich überlegen, was unsere Bedürfnisse sind. Denn: In dieser ganzen politischen Bewegung ist der emotionale Körper nicht sehr zum Tragen gekommen – ausser, dass die Genossen vielleicht gerne die Körper der Genossinnen im Bett hatten.
Aber das ganze Thema der Körperlichkeit, der Innerlichkeit, der Emotionen ist sehr «kopfig» gelöst worden: Man darf nicht mehr eifersüchtig sein, jeder schläft mit jedem, es gibt keinen Besitz mehr. Aber die Psyche ist nicht berücksichtigt worden. Man kann nicht einfach per Dekret sagen: Jetzt sind wir nicht mehr eifersüchtig, jetzt gibt es keinen Besitz mehr, und dann funktioniert's.
Tamara Funiciello: Man hat ja gesehen, dass es nicht funktioniert hat.
Andrée Valentin: Es hat in dieser Zeit der freien Sexualität viel Leiden gegeben. Und Frauen sind sich auch sehr oft missbraucht vorgekommen.
Tamara Funiciello: Das ist eine spannende Debatte. Wir führen sie ja im Moment auch wieder mit dieser neuen feministischen Bewegung, mit diesen Geschichten um Harvey Weinstein, mit dem Hashtag «metoo» und all den Frauen, die sagen: Ich bin missbraucht worden. Ich bin Opfer geworden von sexueller Belästigung.
Die beiden betreten eine Ecke, in der die erste Verhütungspille zu sehen ist. Andrée Valentin hat sie als Befreiung empfunden. Dann zeigt sie auf das Speculum, jenes Untersuchungsgerät, das Frauenmediziner benutzen.
Andrée Valentin: Das Speculum, ganz wichtig! Wir haben uns gegenseitig untersucht, wir haben uns selber in die Vagina geschaut. Wir wollten unseren Körper erkunden und wirklich kennenlernen.
Das war ein ganz wichtiger Prozess. Ich bin vom Kopf endlich mal in meinen Körper gegangen und habe angefangen, ihn besser zu respektieren und auch besser auf meinen Körper aufzupassen. Die Inder sagen ja auch: Mein Körper ist mein Tempel.
Was ist eigentlich mit eurer Sexualität?
Tamara Funiciello: Naja, unsere Generation ist die erste Internet-Porno-Generation.
Andrée Valentin: Oh, mein Gott.
Tamara Funiciello: Ja, das ist nicht nur lustig. Es ist krass, was dir alles mitgegeben wird und was für Vorstellungen herrschen. Und ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man darüber redet.
Andrée Valentin: Glaubst du, dass eure Generation sexuell freier ist als unsere?
Tamara Funiciello: Nein. Wir wachsen auf mit einem Bild, das ganz klar zeigt, wie Sex funktionieren soll: mega gewalttätig, mega penisorientiert und mega heftig.
Andrée Valentin: Und was ist mit den Gefühlen?
Tamara Funiciello: Darauf kann ich dir vielleicht eine Antwort in 50 Jahren geben. Heute gibt es Apps, über die du dich zum Sex verabreden kannst. Du schreibst ‹In 20 Minuten dort›, dann gehst du dorthin und hast Sex. Was mir Sorgen macht, sind die Bilder von Sexualität und Liebe, die einem eingepflanzt werden. Man hat das Gefühl, etwas machen zu müssen, ohne zu wissen, ob man das gerne möchte.
Wir haben uns letztes Jahr mit fünf Juso-Frauen in Anlehnung an eure Bewegung ausgezogen und einen BH verbrannt. Man sagt uns zwar: Ihr seid alle frei zu machen, was ihr wollt in unserer super individualisierten Welt.
Wir haben das gemacht, um aufzuzeigen, was nachher passiert. Das Resultat war: Dieses Foto, auf dem fünf Frauen in der Schweiz einen verfluchten BH verbrannt haben, und die Kommentare dazu waren zwei Monate lang jeden Tag in den Medien!
Andrée Valentin lacht laut.
Wir dachten: Wir schreiben das Jahr 2017 – Leute, könnt ihr euch zusammenreissen? Sie konnten es nicht, sie sind absolut durchgedreht! Wir haben Vergewaltigungsdrohungen und Morddrohungen bekommen. Die Zeitungen waren voll von Fragen wie: Darf man das? Soll man das? Hat man der Sache der Frau damit geschadet? Unglaublich. Und das für eine Aktion, die 15 Minuten gedauert hat.
Andrée Valentin: Ja, die Machtverhältnisse sind immer noch die gleichen. Das heisst, wir müssen weitermachen. Ich sehe das bei meinem Sohn. Männer haben ein anderes Verständnis, da ist einfach diese selbstverständliche Daseinsberechtigung. Wir Frauen dagegen passen uns an. Wir sind nicht selbstverständlich auf diesem Planeten.
Tamara Funiciello: Es hat noch nie eine herrschende Kraft ihre Macht freiwillig abgegeben. Das wird auch nie passieren. Ex-Nationalrätin Gret Haller hat mir mal gesagt: ‹Feminismus heisst, immer einen Schritt zu weit zu gehen›. Und ich glaube, das müssen wir nach wie vor machen, damit die Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden.
Andrée Valentin: Männer sind auch Opfer von diesem ganzen Druck und ihrem Rollenverhalten und all dem, was ihnen aufgezwungen worden ist. Sie leiden auch darunter.
Tamara Funiciello: Absolut.
Andrée Valentin: Mann und Frau sollten die Sachen hinterfragen. Es geht um einen Bewusstseinswandel. Ohne Bewusstsein über etwas kann sich nichts wandeln.
Die beiden betreten die letzte Halle der Ausstellung. Hier kommen Zeitzeugen und Experten zu Wort und ziehen ein Fazit über die Errungenschaften der 68er.
Tamara Funiciello: Was würdest du, die vor 50 Jahren in der feministischen Bewegung aktiv war, uns heute mit auf den Weg geben?
Andrée Valentin: Never give up. Fight. Fight! Wenn du etwas als Frau wirklich spürst, dann geh in die Richtung, trotz der Hindernisse, trotz der Schwierigkeiten. Lass dich nicht entmutigen. Und versuche, andere Frauen zu finden, die genauso denken wie du. Das bildet eine Kraft, die uns weiterbringen wird.