Doch, doch, ein normales Leben mit seiner Frau und seinem Kind – das sei schon eine verlockende Perspektive, erzählt uns der 39-jährige Serbe Petrit. In den letzten Jahren war sein Alltag aber nicht vom Familienleben geprägt, sondern von den Regeln der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies.
Petrit ist hier Häftling. Drogenhandel. Er sitzt schon zum vierten Mal eine Haftstrafe ab. Wir treffen ihn im Werkraum, wo er Metallschrauben verpackt. Blaues T-Shirt, braune Hose. So wie alle hier.
Ob ihn denn die drohenden Gefängnisstrafen nicht vom Handel mit den Drogen abgehalten hätten, wollen wir wissen. «Ich war insgesamt schon 11 Jahre im Gefängnis. Ich glaube nicht, dass Strafen abschrecken. Ein oder zwei Jahre mehr oder weniger – das schreckt keinen ab.»
Das sei tatsächlich so, meint Marcel Niggli, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie. Es wäre natürlich wünschenswert, ein Gerät zu haben, bei dem man einstellt: ein bisschen mehr Strafe oder ein bisschen weniger – und damit das Verhalten eines Straftäters steuern kann. «Aber das funktioniert einfach nicht.»
Es geht um Strafe und Sühne
«Wenn ich mir relativ sicher bin, dass ich nicht entdeckt werde, dann spielt das Strafmass für mich als Täter keine Rolle», sagt Marcel Niggli. Die zentralen Faktoren seien also andere: die Wahrscheinlichkeit überhaupt entdeckt und bestraft zu werden.
Und doch ist es für den Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie klar, dass man für ein mittel schweres Verbrechen nicht dasselbe Strafmass geben kann wie für ein schweres. Hier gehe es aber nicht mehr um Abschreckung, sondern um Sühne. Oder wie es der Volksmund sagt: Strafe muss sein.
Und doch gibt es immer wieder politische Vorstösse für einen schärferen Justizvollzug. Etwa dann, wenn besonders schändliche Verbrechen geschehen. Oder wenn Urteile gefällt werden, die für viele Menschen im Lande zu milde erscheinen. «Kuschel-Justiz» lautet dann der Vorwurf.
Dass solche Forderungen in der Politik beliebt sind, kann Niggli nachvollziehen. «Sie können damit politisch Kapital machen, ohne einen Preis bezahlen zu müssen».
Eine andere grosse Frage im Strafvollzug: kommen Häftlinge während ihrer Haft zur Einsicht, dass man keine Straftaten begehen soll? Oder salopp gefragt: werden sie zu besseren Menschen und somit nicht mehr rückfällig?
Das Gefängnis ist ein Eigengoal für die Gesellschaft.
Strafen können wirken, aber auch schaden
In unseren Gesprächen geben sich verschiedene Häftlinge skeptisch. «Das Gefängnis ist ein Eigengoal für die Gesellschaft. Das ist nicht ein Club von Gutmenschen hier», sagt uns Gennaro, der mit 23 Jahren jüngste Haftinsasse.
Man werde hier nicht zu einer besseren Persönlichkeit. Man passe sich automatisch dem Umfeld an. «Das Wichtigste im Gefängnis ist, den Kontakt nach draussen zu behalten. Damit man nicht den Boden unter den Füssen verliert», meint er. Er selber habe eine Familie draussen und eine Lehrstelle in Aussicht, das helfe.
Der 30-jährige Giorgio, der in früheren Rapper-Videos auch als «Scorpion» auftrat, verbüsste eine siebenjährige Haftstrafe wegen bandenmässigem Einbruchdiebstahl. «Früher habe ich manchmal Autos gestohlen; wusste aber nicht, was ich mit ihnen tun soll. Da habe ich sie einfach stehen lassen.
Heute hätte ich schon rund fünf Kontakte, wo ich die Autos loswerden könnte – für gutes Geld», erzählt Giorgio in seiner Zelle. Jetzt wäre es auch einfacher an Drogen oder Waffen zu kommen – wenn es denn sein müsste.
Giorgio kam anfangs November aus der Haft. Der Wille, in Zukunft auf legale Weise Geld zu verdienen, sei da. «Ich habe keine Ahnung, was ich tun werde. Aber ich hoffe, irgendjemand meldet sich bei mir und bietet mir einen Job an. Ich nehme alles.»
Rückfälligkeit lässt sich schwer messen
Auch der serbische Drogenhändler Petrit verweist auf die negativen Folgen des Haftlebens. Man denke hier die ganze Zeit darüber nach, wie man es nächstes Mal besser machen könnte, sagt er während einer Arbeitspause. «Ein Einbrecher will immer einen besseren Einbruch machen. Ein Dealer einen besseren Deal. Man vergisst, dass einem die Polizei auf den Fersen ist. Und man landet wieder im Knast.»
Um wirklich weiterzukommen, braucht es die Einsicht des Gefangenen.
Die grosse Mehrheit der Häftlinge sind Ausländer. Sie werden nach der Haft oft ausgeschafft. Dann ist keine Kontrolle mehr möglich. Darum lässt sich die Rückfallquote in der Schweiz nur schwer messen. Laut einer Untersuchung des Zürcher Amtes für Justizvollzug und Wiedereingliederung wird jeder siebte Gewalt- und Sexualstraftäter rückfällig. Die grösste Gruppe unter den Gefangenen, nämlich diejenigen, die ausgeschafft wurden, sind in dieser Statistik allerdings nicht enthalten.
«Um wirklich weiterzukommen, braucht es die Einsicht des Gefangenen», sagt Pöschwies-Direktor Andreas Naegeli. Das komme noch recht häufig vor. Man biete hier auch die entsprechenden Angebote. So habe man einen geregelten Alltag mit Arbeit, manche können eine Lehre machen. Kurz: eine Struktur, die Halt gibt. «Man hat auch auf der Seite des Personals professionelle Leute, die einem Vorbilder sein können. Und Anleitungen geben, was gesellschaftlich erwartet und akzeptiert wird.»
Die Bilanz von Gefängnisdirektor Naegeli fällt nach seiner jahrelangen Erfahrung aber eher ernüchternd aus. Eigentlich sei er schon froh, wenn die Häftlinge nicht als schlechtere Menschen rausgehen, als dass sie reingekommen sind.