«Man gewöhnt sich an die Gewalt.» Diese Erkenntnis scheint noch brutaler, als es die Schläge waren. Seit Corinne T. offen darüber spricht, dass ihr Ehemann sie grün und blau prügelte, wird ihr stets dieselbe Frage gestellt: «Warum bist du geblieben?»
Darauf hat die 54-Jährige auch vier Jahre nach der Trennung keine schlüssige Antwort, nur Erklärungsversuche: Ein zerstörtes Selbstbild. Ohnmacht. Zukunftsängste. Hinzu kam die Scham. Und immer wieder Hoffnung.
Nach der Eskalation das Liebes-Revival
Es war Liebe. Und es war der Wunsch, anzukommen. Nach einer Kindheit auf Reisen wähnte sich die Diplomatentochter Corinne T. endlich am Ziel: mit einem Ehemann, einem Kind und einem Eigenheim. Familienglück!
Corinne T. arbeitete nach der Geburt ihres Sohnes weiterhin als Direktionsassistentin bei einem Pharmariesen und teilte sich mit ihrem Mann die Kinderbetreuung und den Haushalt – was beide an die Grenzen ihrer Belastung brachte.
Die romantischen Gefühle der Anfangszeit wichen Gehässigkeiten und Streitereien. Das Ventil ihres Mannes sei der Alkohol gewesen. Ihren Vorwürfen konterte er vermehrt mit Aggressionen. Er griff sie an, schlug, würgte und demütigte sie. Danach kam die Reue, die Einsicht.
Er war zärtlich und aufmerksam, gelobte Besserung. Corinne T. klammerte sich an die schönen Momente ihres Ehelebens; es waren Phasen der Zuversicht – bis zur nächsten Eskalation.
Wo fängt Gewalt an?
Auch ihr Noch-Ehemann sucht nach Erklärungen. Wie konnte es so weit kommen? Dieser Gedanke plage ihn im Nachhinein noch immer. Was ist Gewalt, und wo ist die Grenze?
Seine Frau habe ihn mit Schlafentzug terrorisiert, sagt er. Mit ihren endlosen Diskussionen, die sich immer und immer wieder um die gleichen Dinge drehten. Oft bis zum Morgengrauen. Sie habe ihn geschüttelt, geschrien und geheult. Zermürbend sei das gewesen, kräfteraubend, bis er nicht mehr anders konnte und sich gewehrt habe.
Die Scham ist gross
Birgit Sachweh, ehemalige Leiterin des Frauenhauses beider Basel, kennt solche und ähnliche Entschuldigungen nur zu gut. Häufig nähmen die geschundenen Frauen die Schuld sogar auf sich und den Gewalttäter in Schutz. Oder sie schwiegen aus Scham.
Dabei sind sie nicht selten in allerhöchster Gefahr, krankenhausreif geprügelt oder gar getötet zu werden. Laut dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung zwischen Frau und Mann stirbt alle zwei Wochen eine Person wegen häuslicher Gewalt. Die meisten davon sind Frauen.
Das Frauenhaus ist für Betroffene ein erster Zufluchtsort und bietet Hand für einen Neuanfang. Wie für Corinne T., die zusammen mit ihrem Sohn ins Frauenhaus beider Basel flüchtete und nach 12 Jahren Ehe-Hölle schliesslich doch noch den Absprung schaffte.
Ein Leben lang bestraft
Seit gut drei Jahren lebt Corinne T. nun in einer neuen Beziehung, gewaltfrei. Für ihren heutigen Partner war es schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sich auf das Gegenüber einlassen und sich öffnen, das fällt der 54-Jährigen noch immer schwer. Aus Selbstschutz.
Dass sie ihre Geschichte erzählt, hat einen Grund: Sie will Gewaltopfern Mut machen, die Täter anzuzeigen. Sie selbst hat die Anzeige gegen ihren Mann wegen Körperverletzung und Drohung wieder zurückgezogen – was sie im Nachhinein bitter bereut.
Weil Betroffene häufig unter innerem oder äusseren Druck die Anzeige sistieren, stimmte der Nationalrat unlängst einer Gesetzesverschärfung zu: Neu sollen Opfer von Beziehungsgewalt nicht mehr allein bestimmen, ob die Anzeige zurückgezogen werden kann. «Die Peiniger gehören bestraft», sagt Corinne T. Die Opfer seien es auch – ihr restliches Leben lang.