Die Luft ist dünn auf 3454 Metern. Dennoch ist die atemberaubende Aussicht auf dem Jungfraujoch zwischen Eiger und Mönch immer beliebter. 2015 fuhren erstmals mehr als eine Million Besucher aufs Joch. Einer von ihnen bin ich. Rund 70 Prozent aller Touristen stammen aus Asien. So gross ist in etwa auch der Anteil in meiner Reisegruppe, eine eintägige Exkursion aufs Joch, im Reisecar ab Zürich und zurück. Der Reiseleiter aus Thailand macht diese Tour in der Hochsaison fünfmal pro Woche.
Das Jungfraujoch boomt – trotz Tourismuskrise. Die Gruppe eilt von Attraktion zu Attraktion: rauf auf die Sphinx, raus auf den Gletscher, runter in den Eispalast. Nach eineinhalb Stunden auf dem Dach Europas geht’s schon wieder runter ins Tal. Zeit für ein kurzes Nickerchen auf den reservierten Sitzplätzen in der Jungfraubahn, dann vielleicht eine Übernachtung in der Region. Oder sie fahren gleich weiter, im Reisecar quer durch Europa. Sollte die ultraschnelle Gondelbahn «Eiger-Express» gebaut werden können, wären sie noch viel schneller unterwegs. Geschwindigkeit als Erfolgsrezept im Tourismus?
Staunend und fasziniert zugleich vom organisierten Express-Bergerlebnis, will ich mehr erfahren über die Leute, die in dieser hochalpinen Wunderwelt Tag für Tag ihr Bestes geben. Über den Direktor der Jungfraubahnen, der mit seinen ambitionierten Ausbauplänen und Visionen sogar als «Schweizer des Jahres» nominiert wurde. Und über Leute in Grindelwald, welche sich gegen den Bau des «Eiger-Express» wehren und sich damit zu Aussenseitern machen.
Hin und hergerissen zwischen Wachstum und Bewahrung, zwischen Umsatz und Idylle, betrachte und erlebe ich in meinem Film das als Leuchtturm im Schweizer Bergtourismus gepriesene Jungfraujoch aus drei ganz unterschiedlichen Perspektiven.
Infrastruktur am Anschlag
Aus der Sicht von Andreas Wyss, dem dienstältesten der 120 Mitarbeitenden auf dem Jungfraujoch. Als er vor 29 Jahren die Stelle als technischer Leiter übernommen hatte, rechnete man mit maximal 350’000 Besuchern pro Jahr. Heute sind es dreimal so viele. Entsprechend leide die Infrastruktur, sagt mir Andreas Wyss in seinem verwinkelten Büro irgendwo hinter den Kulissen der Souvenirshops und Gletscherrestaurants. So zum Beispiel der Eispalast. Schon allein die Atemluft der Million Besucher lässt die Eiswände und Eisskulpturen schmelzen. Die Grotte muss deshalb künstlich gekühlt werden. Denn die Gletscherwelt hat in den letzten Jahren noch einen zusätzlichen Feind bekommen: die Klimaerwärmung.
Mittelmass ist nicht gefragt
Der Blick aufs Jungfraujoch auch aus der Sicht von Urs Kessler, Direktor der Jungfraubahnen. Der Vollblutmanager und Visionär setzt alles daran, die Jungfrauregion in eine lukrative Zukunft zu führen. Sommer und Winter. «Mittelmass ist nicht gefragt», sagt mir der Bahnchef schon bei meinem ersten Treffen. Entweder man gehöre zu den Topdestinationen oder man gehe unter.
Darum kämpft er seit Jahren vehement für den Bau des «Eiger-Express», Kernstück des so genannten «V-Bahn Projektes». Für ihn ist Geschwindigkeit ein wesentliches Argument, Touristen anzulocken. Nach einem jahrelangen Nervenkrieg in Grindelwald zwischen Befürwortern und Gegnern sind viele politische Hürden gemeistert. Fehlt nur noch die Baubewilligung des Bundes, dann wäre Urs Kessler am Ziel.
Enteignung als letzte Option
Und schliesslich aus der Perspektive von Otto Kaufmann, seit 40 Jahren Teilzeit-Kondukteur bei den Jungfraubahnen und daneben Käser auf der Alp. Sein Wohnhaus oberhalb von Grindelwald liegt direkt unter der geplanten «Eiger-Express» Gondelbahn. Für ihn und seine Frau Chris wäre das ein enormer Verlust an Lebensqualität und ebenso ein Wertverlust ihres Hauses. Darum verweigern sie den Jungfraubahnen das Überfahrtsrecht, trotz finanzieller Abgeltung, die ihnen zusteht. «Es geht uns nicht ums Geld», sagt Otto Kaufmann, «es geht uns ums Prinzip. Diese Bahn braucht es nicht!»
Zum ersten Mal reden Otto und Chris Kaufmann öffentlich und vor laufender Kamera über ihren Kampf gegen das Bahnprojekt. Es ist ein mutiger Schritt. Denn viele kritische Stimmen in Grindelwald sind verstummt, oder wollen sich nicht vor der Kamera äussern. Sollte es zu keiner Einigung mit den Jungfraubahnen kommen, droht ihnen die Enteignung als letztes juristisches Mittel.