Cédric Waldburger ist Minimalist. Er übt sich in Selbstbeschränkung und hat sich von allem unnötigen Besitz befreit. Der 30-Jährige will mit leichtem Gepäck durchs Leben gehen und hat deshalb nur noch gerade 64 Gegenstände. Selbst seine Wohnung hat er aufgegeben.
Alles was er besitzt, ist schwarz, und er verbringt nie mehr als drei Tage an einem Ort. Der digitale Nomade entwickelt Apps, um sein Leben und das seiner Kunden zu optimieren. Er ist international an verschiedenen Firmen und Projekten beteiligt und ständig unterwegs.
Waldburger lebt zwar minimalistisch, ist aber kein Aussteiger, sondern will Erfolg. Disziplin und Selbstoptimierung sind für ihn wichtige Werte. «Das Schöne ist, ich bin einfach extrem frei in meinem Leben», sagt er.
Bis anhin war Waldburger Single, doch nun hat er sich verliebt. Minimalistisches Leben zu zweit - geht das?
Seine neue Freundin Elena Iwantschek optimiert Suchmaschinen. Im Gegensatz zu ihrem Freund besitzt sie eine Wohnung, und allein in ihrem Badezimmer stehen mehr Dinge als Cédric Waldburger im Ganzen besitzt. Trotzdem ist sie überzeugt von seinem Lebensstil.
Doch beiden ist klar: sollten sie dereinst eine Familie gründen, wird es wohl kompliziert werden mit den reduzierten Gegenständen. Noch allerdings sind die beiden ständig unterwegs. Sie treffen sich in Bali, Berlin oder sonst irgendwo auf der Welt in Hotels oder Mietwohnungen. Dort wo sie jeweils ihre Geschäftstermine haben.
Dass die Vielfliegerei nicht unbedingt einem minimalistischen Lebenskonzept entspricht, dessen ist sich Cédric Waldburger bewusst: «Ich versuche aber im Gegenzug mit meinem reduzierten Lebensstil im Alltag, meinen ökologischen Fussabdruck zu verkleinern.»
Der Aufräumcoach
Der 40-jährige Selim Tolga hat seine Spielsachen schon als Kind nach Farben sortiert, und er liebte es aufzuräumen. Heute ist daraus sein Business geworden. Der Überfluss seiner Kunden ist sein Glück. Denn als Aufräumcoach hilft er Menschen, ihre Wohnungen auszumisten.
«Andere nehmen sich einen Psychiater, ich leiste mir den Aufräumcoach», sagt seine Kundin Ute Ruf. Die ehemalige Lehrerin und Autorin hat in ihrem Leben unzählige Sachen gesammelt und freut sich über das Glücksgefühl nach dem Aufräumen und Entsorgen von überflüssig gewordenen Gegenständen. Pro Stunde investiert sie dafür rund 90 Franken.
«Minimalismus hilft bei Besitz und bei Gedanken Grenzen zu ziehen, damit man sich von unnötigem Ballast befreien kann», sagt Selim Tolga. Bei seiner Kundschaft erkennt er häufig ähnliche Muster. Viele überfordern sich mit der ausschliesslichen Besitzreduktion und vergessen, dass auch im Kopf aufgeräumt werden muss. Erst dann fühle man sich frei und unbeschwert.
Tolga erhält sehr viele Anfragen von Menschen, die gerne Ordnung hätten aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen.Es falle den Kunden leichter, Dinge loszulassen, wenn sie dabei von jemandem unterstützt würden.
Wohnen im Schneckenhaus
Tanja Schindler hat sich entschieden loszulassen. Die Baubiologin lebt nur noch auf 35m2 und kann mit ihrem Oeko-Mini-Haus, das sie selbst entworfen hat, jederzeit umziehen. Sie findet den minimalistischen Lebenstil eine gute Alternative zum oft krankmachenden Überfluss.
«Wir sind die erste Generation, die alles hat, und wir haben gemerkt, dass uns das nicht glücklich macht», sagt die Mutter von zwei Kindern. Als sie nach der Trennung aus dem gemeinsamen Haus auszog, behielt sie nur Gegenstände, die ihr wirklich sehr am Herzen liegen. Sie besitzt nur noch ein Velo und längst schon kein Auto mehr. Und sie legt Wert auf natürliche Materialien.
Statussymbole haben für viele ihre Kraft verloren. Das Bedürfnis, sich von Unnützem zu befreien, kennen deshalb immer mehr Menschen in den Industrieländern. Sie leiden an zu viel Information, an zu vielen Dingen und an zu wenig Zeit fürs Wesentliche.
Wir kaufen mehr als wir brauchen. Wir verzetteln uns, wir verlieren den Fokus. Shoppen als Freizeitbeschäftigung macht auf Dauer nicht glücklich, ist eine Übersprungshandlung, die letztendlich auch auf Ausbeutung von Drittweltländern basiert. Alternativen sind gefragt.
Der Trend zum minimalistischen Lebensstil offenbart die Sehnsucht nach mehr Einfachheit und Einordnung in einer immer weniger überschaubaren Welt.
Ob die Reduktion von Besitz und das gezielte Aufräumen allerdings gegen Orientierungslosigkeit helfen, stellt Paolo Bianchi in Frage. Er ist Dozent für Querdenken an der Zürcher Hochschule der Künste. «Nur weil wir unsere Hemden plötzlich zu Würsten rollen, wird die Welt nicht übersichtlicher.» Er sieht im Trend eher eine Beruhigungspille, die hilft, von der komplizierten Welt abzulenken.
Keine Sorge sagt Selim Tolga, der Aufräumcoach: «Auch die spontane Unordnung habe Platz im Minimalismus. Aber nicht das Erdrückende und Zeitraubende. Man solle sich einfach nur mit Dingen umgeben, die schön und wichtig für einen sind, und die uns im besten Fall glücklich machen.