Die Sicherheitslage im Umfeld der Schweiz habe sich in wenigen Jahren verschlechtert, stellt der militärische Nachrichtendienst (MND) fest. Aufgrund ihrer geografischen Lage hält er einen terrestrischen Angriff auf die Schweiz – also einen Angriff über Land – in den nächsten Jahren für «wenig wahrscheinlich».
Kriege würden allerdings auch über grosse Distanzen geführt. «Die privilegierte Lage der Schweiz mitten in Europa und die entsprechend grossen Distanzen zu aktuellen und möglichen zukünftigen Kriegsgebieten bieten deshalb keinen Schutz mehr», so der MND.
Rückkehr der Machtpolitik
Stefan Holenstein, Oberst im Generalstab und Präsident des Verbands militärischer Gesellschaften Schweiz, konkretisiert gegenüber «DOK»: «Eine ballistische Rakete könnte beispielsweise aus der russischen Enklave Kaliningrad abgeschossen werden.» Gefolgt von Marschflugkörpern und Kampfdrohnen. Ihr primäres Ziel: kritische Infrastrukturen wie der Flughafen Zürich, Elektrizitätswerke, Datencenter oder das Bundeshaus, sagt Holenstein.
Hierbei würde es um strategische Angriffsziele gehen. «Natürlich will Putin seine imperialen Grossmachtgelüste nicht in erster Linie an der Schweiz ausleben, indem er sie terrestrisch einverleibt», sagt Holenstein. Aber mit dem Krieg in der Ukraine sei die Machtpolitik zurück. Man müsse auch das Undenkbare denken.
Russischer Angriff auf Europa ab 2027 möglich
Was wie aus einem schlechten Kriegsfilm klingt, entspricht dem Szenario, von dem auch der MND ausgeht. SRF liegt eine entsprechende Präsentation vor: «Der militärische Nachrichtendienst stellt fest, dass diese Potenziale für Angriffe aus der Distanz mittlerweile weltweit vorhanden sind.»
Aktuell gebe es zwar keine Absichten, diese Potenziale gegen die Schweiz einzusetzen. «Absichten können sich jedoch schnell ändern», schreibt der Nachrichtendienst. Und: «Viel schneller, als die Schweizer Armee entsprechende Systeme zum Schutz vor solchen Bedrohungen beschaffen und einführen könnte.»
Laut ausländischen Nachrichtendiensten könnte ab 2027 ein russischer Angriff auf Europa möglich sein, zum Beispiel auf den Nato-Partnerstaat Estland.
Die Zeitenwende, von der wir schon lange geredet haben, ist jetzt da.
Das kontrastiert stark mit dem aktuellen Zustand der Schweizer Armee, die Herr und Frau Schweizer vor allem bei Hilfseinsätzen während der Corona-Pandemie oder bei Friedenseinsätzen im Ausland zu Gesicht bekommen.
«Die Schweizer Armee ist nicht verteidigungsfähig in dem Zustand, in dem sie heute ist», stellt Divisionär Rolf André Siegenthaler, Chef Logistikbasis der Armee, fest. Die Verteidigungsfähigkeit müsse wiedererlangt werden, sagt Thomas Süssli, der Chef der Armee. Dafür seien 50 Milliarden Franken nötig. Die Bevölkerung müsse verstehen: «Die Zeitenwende, von der wir schon lange geredet haben, ist jetzt da.»
Bisher hat sich der Bundesrat noch nicht auf eine neue Ausrichtung der Armee festgelegt.
Dass seine Truppe derzeit nicht verteidigungsfähig ist, bestreitet Thomas Süssli nicht. Gleichzeitig hält er fest: «Die Schweizer Armee ist in keinem desolaten Zustand.» Die Armee agiert nämlich aufgrund eines 20 Jahre alten Auftrags: schützen und helfen.
2003 hatte die Mehrheit des Volkes dieser Ausrichtung angesichts der damaligen weltpolitischen Lage zugestimmt. Bei der sogenannten «Armee XXI» ist die Verteidigungsfähigkeit aus dem Fokus gerückt. «Kompetenzerhalt» ist das Fachwort, das heisst, die Armee müsse nur noch das Know-how zur Verteidigung haben, sagt Süssli. «Bisher hat sich der Bundesrat noch nicht auf eine neue Ausrichtung der Armee festgelegt.»
Das grosse Abrüsten
Folge: Das wahrscheinlichste Szenario «Luftangriff auf Distanz» könnte die Armee heute kaum abwehren. Stefan Holenstein: «Der Schweizer Luftraum ist ein Löchersieb.» Aktuell könnten maximal 20 Prozent der Fläche gegen Angriffe aus der Luft verteidigt werden.
Zwar wird die Luftverteidigung jetzt erneuert. Die bestellten Kampfflieger des Typs F-35 und das Patriot-Luftabwehrsystem werden aber erst nach 2027 geliefert. Und wie sieht es mit der Bodenabwehr aus? Das Heer wurde seit dem Ende des Kalten Krieges abgerüstet.
Beispiel Panzerhaubitzen der Artillerie: Der Typ M109 steht seit 1968 im Dienst der Schweizer Armee. Besass sie vor dem Fall der Mauer noch 564 Geschütze, so sind es heute noch 133. Die Zahl 133 steht denn auch auf der offiziellen Armeeseite «Das VBS in Zahlen». Eigentlich klingt das nicht beunruhigend: Im Kriegsfall braucht die Schweiz nämlich vier Artillerieabteilungen à je 24 Panzerhaubitzen, total also 96 Panzerhaubitzen.
Ein trügerisches Bild
SRF-Recherchen aber zeigen: Die Ausrüstungszahlen der Armee sind trügerisch. Thomas Süssli bestätigt, dass nur eine der vier Artillerieabteilungen vollständig ausgerüstet werden kann. Offiziell sind zwar 133 M109 in Betrieb, aber sie reichen nur für eine einzige Artillerieabteilung mit einem Bedarf von 24 Panzerhaubitzen.
Was ist mit den restlichen 80 Prozent? «Diese Panzerhaubitzen rollen schon gar nicht mehr oder fallen auseinander, wenn sie im Einsatz sind», sagt Stefan Holenstein. Und der Chef der Armee räumt ein: «Wenn die Truppe mit zehn Haubitzen in eine Übung geht, dann kommen in der Regel nur drei zurück, die funktionieren.»
Nur 18 Prozent der Panzerhaubitzen-Systeme voll ausgerüstet
Das grosse Problem sei zudem, dass das Drumherum fehle. «Um ein Artilleriesystem betreiben zu können, braucht es mehr als nur Kanonen», sagt Süssli. Es fehle an Material wie Munitionsfahrzeugen und Sensoren, um alle M109 betreiben zu können.
Für den einfachen Bürger klingt das haarspalterisch. Auf Nachfrage räumt der Chef der Armee ein, die Information auf der VBS-Seite «könnte ergänzt werden». «Zur Zahl der 133 Haubitzen könnten wir schreiben, dass wir aktuell nur eine Abteilung vollständig ausrüsten können.»
Aber auch damit hätten die Bürgerinnen und Bürger keine Transparenz darüber, dass nur 18 Prozent der Geschütze im Kriegsfall einsatzbereit und durchhaltefähig wären. Von der transparenten Angabe von lediglich 24 voll ausrüstbaren Panzerhaubitzen will der Chef der Armee aber nichts wissen.
Nur 40 Prozent der Kampfpanzer voll ausgerüstet
Gleich argumentiert Thomas Süssli bei den Kampfpanzern: Er bestätigt, dass von sechs Kampfpanzer-Bataillonen, die im Ernstfall benötigt werden, nur zwei vollständig ausgerüstet werden können. Die Armee bräuchte 168 Kampfpanzer, um alle Bataillone ausrüsten zu können.
Auf der VBS-Seite sind aber nur 134 sogenannte werterhaltene Kampfpanzer vom Typ 87 Leo WE aufgeführt. Das heisst: Im Ernstfall hat die Armee 34 werterhaltene Panzer zu wenig. Mit der Zahl 134 führt das VBS auch hier den Bestand an Kampfpanzern an, obwohl sie gleichzeitig einräumt, dass nur 40 Prozent dieser 87 Leo WE im Ernstfall durchhaltefähig sind. Also nur 56 Kampfpanzer vom Typ 87 Leo WE. Aber auch hier sieht der Chef der Armee keine Irreführung der Bevölkerung. Die Leoparden seien ja vorhanden, «nur die Führungsinstrumente fehlen».